Guy-Ernest Debord war Künstler, Autor, Filmemacher und vor allem: Revolutionär. Als im Mai 1968 ein Generalstreik und Barrikadenkämpfe die französische de Gaulle-Regierung fast in die Knie zwangen, war auch das Gründungsmitglied der sogenannten Situationistischen Internationale an vorderster Front mit dabei. Doch diese „Gesellschaft des Spektakels“, wie Debord den Kapitalismus als entfremdete Welt des Konsums anprangerte, ging nicht in die Knie. Im Gegenteil: In einem späteren Nachwort trauerte dieser melancholische Revolutionär über eine verschärfte Entwicklung dieses Spektakels. Enttäuscht nahm sich Debord 1994 in einem abgeschiedenen Dorf in der Auvergne das Leben.
An diesem Premierenabend sitzt er im Publikum. Zumindest ist er namentlich auf einem Zettel fixiert, der über einem Tribünenplatz hängt. Damit sich sein Geist unter den Anwesenden entfalten kann. Neben anderen rebellischen Geistern wie etwa Friedrich Engels, Rosa Parks oder der spanischen Kommunistin Dolores Ibárruri.
Denn das Berliner Theaterkollektiv „Europäische Gemeinschaft für kulturelle Angelegenheiten“ (kurz: EGfKA) hat zu einer politischen Séance im Ringlokschuppen eingeladen. Und spiritualistisch geht es prompt los an diesem Abend: Wer in diese zusammengeschusterte Zeitmaschine, den Zeitraum-Materialisierer „ZRM 3000“, hineintritt, bekommt gleich Kräuter zum Inhalieren vor die Nase gehalten. Schließlich wurde im Ankündigungstext ja auch ein „(in)famous Spirit of ’68“ versprochen. Aus dem Off geht die Empfehlung raus, sich zu entspannen, während die Gäste um diese mit Teppichen und Kissen bedeckten Podien kreisen.
Denn die Tribünenplätze sollen freigehalten werden. Sie sind für die Toten reserviert, die nun wie Geister beschworen werden. „Vergessen ist konterrevolutionär“, raunt einer der EGfKA-Performer (und das hätte auch von Debord selbst sein können). Beschwört werden an diesem Abend nicht nur Revolutionäre. Manche beschriften Zettel für verstorbene Freunde und Angehörige, andere für hingeschiedene Haustiere. Oder Idole wie Davie Bowie (denn: „Egal, was kommt, gute Musik brauchen wir immer!“), ergänzt von 2Pac („Damit für jeden Geschmack etwas dabei ist!“).
Was hippiesk anmutet, hat jedoch eine marxistische Tradition. Schon Marx schrieb von den Toten, die in revolutionären Situationen wie Geister heraufbeschworen werden. Walter Benjamin sprach sogar von einer geheimen Verabredung mit den gewesenen Geschlechtern, die die Geschichte mit sich bringe. Und diese Thesen standen Pate bei dem Projekt von EGfKA, wenn die spirituelle Sitzung nahtlos in eine Zeitreise übergeht und ZeitgenossInnen wie Rudi Dutschke, Hans-Jürgen Krahl oder Martin Luther King zu hören sind oder an die Wände projiziert werden.
Einen politischen Diskursraum eröffnen, in dem auch wieder über konkrete Utopien disputiert werden kann, das ist eins der Motive von EGfKA. Historische Momente werden aus dem Geschichtsverlauf gesprengt, montiert oder – wie es im Zeitreisejargon heißt – interferiert: Revolutionäre Wellen ab 1917 und Rätebildungen um 1920 mit Protesten gegen Austerität in Griechenland oder der Occupy-Wall-Street-Bewegung. Hier wird ein Trümmerberg der Geschichte vor Augen geführt, um den Gegenwartsdiskurs mit revolutionären Energien zu laden. Denn wenn es nicht mal eine Gesellschaft gibt – so das offizielle neoliberale Dogma – wie soll dann noch Geschichte gedacht werden? EGfKA leistet hier Theater-Therapie gegen das Credo vom alternativlosen Kapitalismus. Auch wenn die Performance esoterisch anmutet. Aber bekanntlich wirkte auch Debord einst in einem exklusiven Zirkel, bevor er in die revolutionären Wirren des Mai 68 taumelte.
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