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Heimatidylle als Gruselkabinett: KGI inszenierten im Mülheimer Ringlokschuppen "Ur-Heidi"
Foto: Björn Stork

Opa und die SS

02. Februar 2022

„Ur-Heidi. Eine Heim-Suchung“ von KGI – Bühne 02/22

Die pittoresken Alpentäler, die man mit etlichen TV- und Leinwand-Adaptionen des bekannten Heidi-Stoffs verbindet, sind zu einer niedlichen Nachahmung zusammengeschrumpft: Eine Modelleisenbahn rollt durch die Landschaft, gesteuert vom griesgrämigen Großvater, der Heidi anranzt, bloß die Finger von der Miniaturlokomotive zu lassen.

So abweisend bis aggressiv wird diese Figur des Alm-Öhi zwar auch in Johanna Spyris Buchvorlage charakterisiert. Doch der Theatergruppe KGI: Büro für nicht übertragbare Angelegenheiten geht es in ihrer Inszenierung von „Ur-Heidi. Eine Heim-Suchung“ im Ringlokschuppen vielmehr darum, den Stoff als Reibungsfläche der faschistischen Vergangenheit aufzugreifen.

Gibt es eine Gefühlserbschaft?

Der zornige Einsiedler aus dem Original tötete einst beim Militär und dient in dieser Inszenierung zumindest als loser, dramaturgischer Ausgangspunkt für die familiären Verstrickungen mit dem Faschismus. Die KGI befragen: Gibt es eine Art Gefühlserbschaft, eine autoritäre Sozialisation, die von den Großeltern bis zur gegenwärtigen Generation einer Familie erzieherisch weitergegeben wird?

Dafür führten die Mitglieder von KGI Interviews mit ihren Großeltern und Vätern, die in den 90 Minuten nachgestellt werden: Da erinnert sich der Vater daran, „dass sich seine Eltern an nichts erinnerten.“ Dem Großvater fällt es schwer, seine Gefühle zu offenbaren. Er ist unfähig dazu, menschliche Nähe oder Emotionen zu zeigen – mit Ausnahme seiner gelegentlichen Wutanfälle, die einerseits eine Folge einer Kriegsverletzung sind, anderseits eine Verhaltensweise, die er auch bei seinem Sohn beobachtete.

Schatten der Vergangenheit

„Blauäugig“, wie er war, glaubte der Großvater an eine „Karriere bei der SS“. Und ein Blick in ein Fotoalbum gibt zwar Antworten, wirft jedoch zugleich Fragen auf: Warum vergruben sie Leichen? Warum machten sie Fotos davon und archivierten diese zudem? Das Thema ist nicht neu, es erinnert an etliche, mittlerweile kanonisierte Theorien: angefangen von Mitscherlichs These einer Abwehrhaltung der Hitler-Anhänger gegenüber der Mitschuld an den Verbrechen bis hin zu Adornos Überlegungen zu einer „Erziehung nach Auschwitz“.

KGI greifen jedoch vielmehr popkulturelle Referenzen auf, die bezeugen, wie die NS-Vergangenheit fortlebt. So flimmern etwa auf der Leinwand pixelige Nazis aus dem Ego-Shooter „Wolfenstein3d“ auf (der 1994 aufgrund der Darstellung verfassungsfeindlicher Kennzeichen beschlagnahmt wurde), während die Bühnenakteure hinter den Heidi-Puppenmasken in den Gesprächen weder zum Gefühlsleben noch zur ganzen Wahrheit vordringen. „Ur-Heidi“ dekonstruiert den bekannten Ausgangsstoff als eine Art Gruselkabinett, das veranschaulicht, wie sperrig es ist, die verdrängte, faschistische Vergangenheit der eigenen Familien ans Tageslicht zu bringen.

Benjamin Trilling

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