Die pittoresken Alpentäler, die man mit etlichen TV- und Leinwand-Adaptionen des bekannten Heidi-Stoffs verbindet, sind zu einer niedlichen Nachahmung zusammengeschrumpft: Eine Modelleisenbahn rollt durch die Landschaft, gesteuert vom griesgrämigen Großvater, der Heidi anranzt, bloß die Finger von der Miniaturlokomotive zu lassen.
So abweisend bis aggressiv wird diese Figur des Alm-Öhi zwar auch in Johanna Spyris Buchvorlage charakterisiert. Doch der Theatergruppe KGI: Büro für nicht übertragbare Angelegenheiten geht es in ihrer Inszenierung von „Ur-Heidi. Eine Heim-Suchung“ im Ringlokschuppen vielmehr darum, den Stoff als Reibungsfläche der faschistischen Vergangenheit aufzugreifen.
Gibt es eine Gefühlserbschaft?
Der zornige Einsiedler aus dem Original tötete einst beim Militär und dient in dieser Inszenierung zumindest als loser, dramaturgischer Ausgangspunkt für die familiären Verstrickungen mit dem Faschismus. Die KGI befragen: Gibt es eine Art Gefühlserbschaft, eine autoritäre Sozialisation, die von den Großeltern bis zur gegenwärtigen Generation einer Familie erzieherisch weitergegeben wird?
Dafür führten die Mitglieder von KGI Interviews mit ihren Großeltern und Vätern, die in den 90 Minuten nachgestellt werden: Da erinnert sich der Vater daran, „dass sich seine Eltern an nichts erinnerten.“ Dem Großvater fällt es schwer, seine Gefühle zu offenbaren. Er ist unfähig dazu, menschliche Nähe oder Emotionen zu zeigen – mit Ausnahme seiner gelegentlichen Wutanfälle, die einerseits eine Folge einer Kriegsverletzung sind, anderseits eine Verhaltensweise, die er auch bei seinem Sohn beobachtete.
Schatten der Vergangenheit
„Blauäugig“, wie er war, glaubte der Großvater an eine „Karriere bei der SS“. Und ein Blick in ein Fotoalbum gibt zwar Antworten, wirft jedoch zugleich Fragen auf: Warum vergruben sie Leichen? Warum machten sie Fotos davon und archivierten diese zudem? Das Thema ist nicht neu, es erinnert an etliche, mittlerweile kanonisierte Theorien: angefangen von Mitscherlichs These einer Abwehrhaltung der Hitler-Anhänger gegenüber der Mitschuld an den Verbrechen bis hin zu Adornos Überlegungen zu einer „Erziehung nach Auschwitz“.
KGI greifen jedoch vielmehr popkulturelle Referenzen auf, die bezeugen, wie die NS-Vergangenheit fortlebt. So flimmern etwa auf der Leinwand pixelige Nazis aus dem Ego-Shooter „Wolfenstein3d“ auf (der 1994 aufgrund der Darstellung verfassungsfeindlicher Kennzeichen beschlagnahmt wurde), während die Bühnenakteure hinter den Heidi-Puppenmasken in den Gesprächen weder zum Gefühlsleben noch zur ganzen Wahrheit vordringen. „Ur-Heidi“ dekonstruiert den bekannten Ausgangsstoff als eine Art Gruselkabinett, das veranschaulicht, wie sperrig es ist, die verdrängte, faschistische Vergangenheit der eigenen Familien ans Tageslicht zu bringen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Liebe und Gewalt
„Told by my Mother“ in Mülheimer a.d. Ruhr – Tanz an der Ruhr 03/24
Veränderung und Entwicklung
„Deep Talk“ im Mülheimer Ringlokschuppen – Prolog 11/23
Britney Spears bis Working Class
HundertPro Festival im Ringlokschuppen Ruhr – Festival 09/23
Diskursive Fronten überwinden
„Produktives Streiten“ in Mülheim – Spezial 08/23
Sommerstücke im Grünen
Hochbetrieb vieler kleiner Bühnen im Ruhrgebiet – Prolog 07/23
Folklore und Feuerwerk
ExtraSchicht im Ruhrgebiet – Festival 06/23
Dancing ‘bout my Generation
„Potere“ in Mülheim an der Ruhr – Tanz an der Ruhr 03/23
Desertion gegen Kriegstreiberei
„Ein Mensch wie ihr“ in Mülheim an der Ruhr – Prolog 10/22
Gegen die Normalität
„Hundertpro Festival“ im Ringlokschuppen Ruhr – Festival 08/22
Internationale Frauenpower
Lesungsreihe der Silent University Ruhr
Ausweg Mensch
Ringlokschuppen zeigt „Hard Feelings“
Auf ins Abenteuer
„Praktisch Galaktisch“ im Ringlokschuppen
Von der Straße ins Theater
„Multiversum“ am Theater Oberhausen – Prolog 04/24
Tödlicher Sturm im Wurmloch
„Adas Raum“ am Theater Dortmund – Prolog 04/24
Mackie im Rap-Gewand
„MC Messer“ am Theater Oberhausen – Tanz an der Ruhr 04/24
Die ultimative Rache vor weißer Schleife
„Die Fledermaus“ mit Schauspielstudierenden an den Kammerspielen Bochum – Auftritt 04/24
„Ich mache keine Witze über die Ampel“
Kabarettist Jürgen Becker über sein Programm „Deine Disco – Geschichte in Scheiben“ – Interview 04/24
„Zu uns gehört das Lernen von den Alten“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2024 – Premiere 04/24
Verloren im Nebel
Das Duo Paula Rot im Foyer des Theaters Duisburg – Bühne 03/24
Glücklich bis ans Ende?
„Star-Crossed Lovers“ in Essen – Prolog 03/24
Ein Baum im Herzen
„Eschenliebe“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 03/24
Über die Familie
45. Duisburger Akzente – Festival 03/24
Sternfahrt zum Shoppen
„Einkaufsstadt, 4300“ von Trio ACE in Essen – Prolog 03/24
„Im Gefängnis sind alle gleich“
Regisseurin Katharina Birch über „Die Fledermaus“ an den Bochumer Kammerspielen – Premiere 03/24