Briefe flattern aus einer Kiste auf den Boden. Es ist ein Stapel von Schreiben, den Selma erst jetzt entdeckt. Der Absender ist ihr Vater aus Istanbul. „Babba“ nennt sie ihn zärtlich. Dabei hat sie Babba nie kennengelernt. Denn Selmas Mutter, die Osterberlinerin Gudrun, hat jeden Kontakt zu ihrem Vater Mehmed unterbunden, nachdem er nach ihrer Affäre Deutschland Richtung Türkei verließ und die schwangere Gudrun zurückließ. Nur Fotos, die Selma aus einer Kiste kramt, geben ihr ein Bild von ihrem Vater: braune Augen, markanter Schnauzbart. So lernte dieser junge „Gastarbeiter“ damals Selmas Mutter kennen.
Geblieben sind ihr aber auch die Schallplatten ihres Vaters mit den Songs der berühmten türkischen Pop-Sängerin Sezen Aksu. Der Autor Tuğsal Moğul hat diesen Liedern eine Hommage gewidmet: „Der kleine Spatz vom Bosporus“ – so wird Aksu in der Türkei genannt, und diesen Titel gab Moğul auch seinem Theaterstück, dass die Gefühlsturbulenzen einer Liebes-, Familien- und Migrationsgeschichte zu einem unterhaltsamen, musikalischen Abend verpackt.
Sezen Aksus Songs spielen an diesem Abend die Hauptrolle. Neben Christiane Hagedorn, die auf der Bühne die Lieder singt und zunächst Selma spielt. Und die ist im Stück selbst Sängerin geworden. Sie singt, um zu überleben, sagt sie. Aksus Hymnen spenden da Trost. Auch beim Tod ihrer Mutter Gudrun.
Als sie die Tagebücher findet, entblättert sie die Vorgeschichte rund um ihre Eltern: In den 70er Jahren lebt der junge Mehmet in Westberlin, im Ostteil der Stadt lernt er Gudrun kennen. Beide verlieben sich. Im Kino küssen sie sich und Mehmet gesteht: „Mein Herz ist schwer“. Eine Floskel, die aus den Songs der Sezen Aksu stammen könnte. Aus der Romanze geht schließlich Selma hervor. Was Gudrun jedoch nicht weiß: Mehmet hat bereits eine Familie, die dem Gastarbeiter nach Deutschland gefolgt ist und in Westberlin weilt.
Anfang der 80er Jahre nimmt Mehmet eine Rückkehrabfindung von 10.500 D-Mark an. Mit seiner Familie bricht er wieder Richtung Türkei auf. Zurück bleibt eine tief enttäuschte Gudrun. Dass diese deutsch-türkische Geschichte über schwere und gebrochene Herzen nie in Kitsch versinkt, liegt vor allem an Christiane Hagedorn: Die Schauspielerin und Sängerin schlüpft humorvoll in alle Rollen und performt gekonnt die Balladen der Pop-Diva.
„Der kleine Spatz vom Bosporus“ ist eine Hommage an die Pop-DivaSezen Aksu, deren Lieder an diesem Abend eine Migrationsgeschichte unter dem Radar der üblichen Diskursversatzstücke kommentieren. Gastarbeiter? Fachkräfte? Migranten? Quatsch! Dieser musikalischer Abend erzählt von Menschen, die lieben und verletzen. Und die mit seelischen Narben zurückbleiben. Aber als wärmender Trost bleibt die Musik von Sezen Aksu.
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