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Kieran Joel
Foto: Stefan Mager

„Jede Inszenierung ist eine Positionierung“

30. Oktober 2025

Regisseur Kieran Joel über „Antichristi“ am Schauspielhaus Dortmund – Premiere 11/25

In der gleichnamigen Romanvorlage von Mithu Sanyal reist die Drehbuchautorin Durga durch die verdrängte europäische Kolonialgeschichte.

trailer: Herr Joel, das Stück „Antichristi“ will die Kolonialgeschichte u.a. in der Popkultur sichtbar machen. Gibt es also viel Musik auf der Bühne?

Kieran Joel: Musik wird es geben. Viel oder wenig, das weiß ich noch gar nicht. So arbeite ich auch gar nicht. Ich bin ein Regisseur, der den Probenprozess sehr ernst nimmt, im Sinne des Prozesses. Das heißt, ich schaue was passiert und wer die Spieler:innen sind und wie wir zusammen auf dieses Material treffen. Ich kann nur sagen, dass ich vorher schon mit Musik gearbeitet habe und auch immer mit guten Musiker:innen arbeite. Das ist ein wichtiger Bestandteil meiner Inszenierung im Allgemeinen.

Wie passt Agatha Christies antiquierter Detektiv Hercule Poirot in einen Roman mit dem Fluxkompensator aus dem Film „Zurück in die Zukunft“, der Zeitreisen ermöglicht?

Das ist eine gute Frage. Die Autorin ist ja selber ein großer Krimi-Fan, und ich glaube, dass sie als Kind oder als Jugendliche oder auch als erwachsene Frau von diesem Detektivroman sehr beeinflusst war, so wie wir alle ja von Geschichten, Musik oder Literatur beeinflusst sind. Aber gerade deshalb ist es wichtig zu hinterfragen: Was bedeutet es, wenn wir uns kritiklos in diese Welten vertiefen? Die rassistischen oder sexistischen Implikationen werden ideologisch ausgeblendet, weil wir in dieser Gesellschaft leben. Und gerade jetzt merken wir, was für ein schmerzhafter – aber notwendiger – Prozess es für unsere Gesellschaft ist, in die Literatur zu schauen und zu fragen: Was war denn da eigentlich alles rassistisch? Das wirbelt viel Unruhe auf, weil vieles, womit wir sozialisiert wurden, plötzlich problematisch erscheint. Aber diese Auseinandersetzung ist überfällig. Dass dann in der Metaebene ein Detektiv auftaucht, der dafür zuständig ist, Dinge ans Licht zu bringen, herauszufinden, was noch niemand weiß – das ist kein Zufall. Es ist ein magischer Vorgang, dass diese Toten des Kolonialismus, die wir gar nicht alle auf dem Zettel haben, hier plötzlich zur Sprache kommen und quasi lebendig werden, weil wir wieder auf ihre Geschichte blicken. Der Fluxkompensator verstärkt das Zeitreise-Motiv, macht die Figur zur aktiven Teilnehmerin der Geschichte statt zur fernen Beobachterin. Die Autorin vermengt diese Ebenen sehr virtuos – aber nicht nur zum Vergnügen, sondern um uns zu zwingen, hinzuschauen.

Der Titel vermittelt auch eine gewisse Abneigung gegen das gut situierte, ritualisierte Britische bei Agatha Christie. Kommen die großen Kolonialmächte der Weltgeschichte immer gut weg mit ihren Verbrechen?

Absolut. Dass das auch immer so abgetan wird. Gerade in der Beschäftigung damit am Theater Dortmund wird das noch spezieller, weil uns als Theaterschaffende oder Kulturschaffende immer so ein bisschen despektierlich ein Elfenbeinturm-Dasein nachgesagt wird, als sei das ein Spezialwissen. Eine ganz schön steile These, wenn wir von 100 Millionen Toten reden, die in Indien durch die Kolonisierung ums Leben gekommen sind. Das ist kein spleeniges Hobby, sich damit zu beschäftigen. Das ist historische Realität, die systematisch aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängt wird. Wir sehen gerade, wenn wir in die USA schauen, dass man dort versucht, aktiv Geschichte umzuschreiben, indem man an die Hochschulen geht und bestimmte Sachen plötzlich in der Forschung keine Rolle mehr spielen sollen. Da sind wir wirklich an einem Punkt angekommen, wo darüber zu sprechen nicht nur lohnenswert, sondern dringend notwendig ist. Die Frage ist: Wer darf Geschichte erzählen? Und aus wessen Perspektive?

Das Stück wirft einen anderen Blick auf die europäische Kolonialgeschichte. Das Theater in Dortmund wieder als politische Lehranstalt?

Das ist immer so ein Begriff, und hat ja auch mit dem eigenen Empfinden zu tun. Ich kann nicht für die anderen Regisseur:innen da sprechen oder für das Haus im Allgemeinen. Ich kann nur für meine Arbeiten sprechen. Und eine Lehranstalt wird meine Inszenierung nicht – das wäre ja selbst wieder paternalistisch. Wir entwickeln eine humorvolle, sinnliche, theatrale Auseinandersetzung mit dem Thema. Aber natürlich hat das eine politische Dimension. Wenn dann Fragen aufgeworfen werden oder jemand eine neue Perspektive einnimmt, dann ist das gewollt. Ich möchte niemanden belehren, aber ich möchte auch nicht so tun, als wäre Theater unpolitisch. Jede Darstellung ist eine Entscheidung, jede Inszenierung eine Positionierung. Die Frage ist nur: Machen wir es bewusst oder unbewusst?

Bierernst wird es also nicht?

Auf gar keinen Fall. Das ist Mithu Sanyal. Das ist schon meine zweite Arbeit, der zweite Roman, den ich von ihr mache. Ich glaube, wir passen vielleicht ganz gut zusammen, weil wir beide einen guten, humorvollen Blick auf die Sachen haben. Aber dieser Humor ist ja auch kein Schulterzucken. Es ist auch kein ironisches Sicherheitsnetz, sondern durch Humor kann ich erst eine Verschiebung der Perspektive wahrnehmen. Humor ermöglicht es, schwierige Wahrheiten auszusprechen, ohne dass die Zuhörer sofort dicht machen. Humor ist eine Strategie des Widerstands, eine Waffe der Unterdrückten. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass der Humor nicht zur Verharmlosung wird. Es ist ein schmaler Grat.

Hat derjenige Vorteile, der den Roman kennt?

Klar. Ich glaube, dieser jemand ist immer im Vorteil. Das ist hier genauso wie bei Klassikern von Schiller oder Kleist. Aber ich versuche in meinen Inszenierungen, es immer so zu schaffen, dass alle auf ihre Kosten kommen, dass die Szenen auch für diejenigen funktionieren, die den Roman nicht gelesen haben. Nichtsdestotrotz halte ich ein Theaterstück für eine eigene Kunstform, ich bin also nicht dafür zuständig, das Lesen des Romans zu ersetzen. Theater sollte zum Roman hinführen, nicht von ihm weg.

Wie bringt man 544 Seiten über Diversität, Transidentität und den Mythos vom gewaltlosen Widerstand in Indien auf die Bühne?

Das ist eine eigene Auswahl. 544 Seiten kriegt man nicht erzählt. Man muss herausfinden, was der Kern des Romans ist. Ich glaube, der Kern des Romans sind die Fragen, die sich die Hauptfigur auch immer wieder stellt: Warum weiß ich das nicht? Warum weiß ich so wenig darüber? Und wichtiger noch: Warumsollte ich nichts darüber wissen? Wessen Interessen dient diese systematische Unwissenheit? Die Inszenierung muss eine sinnliche Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung werden. Es geht nicht darum, die Leute darüber aufzuklären, wie der indische Unabhängigkeitskrieg funktioniert hat – das wäre wieder diese Lehrveranstaltung. Sondern ich lasse vergessene Geschichte im besten Fall wieder lebendig werden, emotional erfahrbar. Vielleicht nehmen die Zuschauer:innen mit, dass diese Kolonialgeschichte total wichtig ist für uns, um unsere Gegenwart zu begreifen - und die Machtverhältnisse, die bis heute fortwirken. Und vielleicht können wir die Zukunft ein bisschen anders gestalten, wenn wir verstehen, wie wir hierher gekommen sind.

Ein Blick noch auf die Vorlage: Was macht den Roman von Mithu Sanyal als literarisches Werk so besonders?

Dieser Roman funktioniert ganz bewusst nicht nur zwischen den beiden Buchklappen. Wer liest, muss nach außen gehen, muss googeln, muss, um Zusammenhänge zu verstehen, sich teilweise informieren. Man kann diesen Roman nicht en passant lesen. Ich glaube, das ist gewollt. Weil da ein Thema auf den Tisch kommt, wovon wir keine Ahnung haben – oder besser: keine Ahnung habensollen. Die strukturelle Unwissenheit über Kolonialgeschichte in Deutschland ist ja kein Zufall. Was aber interessant und notwendig wäre, zumindest ein bisschen Ahnung davon zu haben. Und dann natürlich, wie Mithu Sanyal zwischendiesen Ebenen hin und her springt, wie intensiv ihre Figuren sind. Die Romane funktionieren ja sehr aus der Intro-Perspektive. Ich bin als Leser in einem „Stream of Consciousness“ (übers.: Bewusstseinsstrom, Anm. d. Red.), ich bin auf den Gehirnneuronen dieser Figur unterwegs und fliege ständig durch die Zeit, durch die Gedanken dieser Figur. Deswegen ist es ja auch konsequent, dass dann auch die Zeitreise als Form dazukommt. Aber diese formale Virtuosität hat einen Zweck: Sie zwingt uns, die Linearität der Geschichtsschreibung zu hinterfragen. Geschichte ist nicht abgeschlossen, sie wirkt in uns fort.

Antichristie | 29. (P), 30.11., 17.1., 11.3. (weitere Termine folgen) | Schauspielhaus Dortmund | 0231 502 72 22

Interview: Peter Ortmann

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