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Jette Steckel
Foto (Ausschnitt): Alexander Bunge

„Subjektive Wahrnehmung ist verboten“

25. September 2025

Regisseurin Jette Steckel über „Das große Heft“ am Bochumer Schauspielhaus – Premiere 10/25

Im Antikriegsstück nach Ágota Kristófs gleichnamigem Roman versuchen Zwillingsbrüder, durch unerbittliche Abhärtung einen Krieg zu überleben.

trailer: Frau Jeckel, die russischen Drohnen fliegen schon über Polen. Wie nah ist das Szenario aus Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“?

Jette Steckel: Sehr nah. Nur dass bei Kristof wir die Aggressoren sind, die Deutschen, während Russland zu den Befreiern zählt. Die Situation in Europa nähert sich aber einer Bedrohlichkeit an und damit der Welt der Zwillinge, die in der Geschichte von Ágota Kristóf in einem nicht näher definierten Kriegsgebiet angesiedelt ist. 

Sollte man im Fall der Fälle tatsächlich wie die Zwillinge auf Resilienz bauen? Also: Sich abhärten, singen und nicht allein sein?

Das ist eine Frage der Interpretation. Man kann die Zwillinge als Täter und Opfer lesen. Man kann sagen, sie sind ein Abbild von uns, sie machen es wie wir: Die Begegnung mit Krieg und Gewalt führt wiederum zur Ausübung von Krieg und Gewalt, wie ein Mechanismus. Am Anfang sind sie unschuldig, am Ende richten sie und lassen ihren Vater sterben. Man kann aber auch sagen: Es gibt keine andere Möglichkeit, auf die Welt zu reagieren, die sie vorfinden. Die Umgangsformen und die Verrohung erzwingen, dass sie sich wehren. Im Grunde sind das genau die gleichen Fragen, wie die, vor denen wir in Europa gerade stehen. Und vor der ich ganz persönlich stehe: Was denken wir, kann das Pendel der Gewalt unterbrechen? Resilienz ist sicher keine Lösung. Der letzte Satz in dem Roman ist: Man kann die Grenze überqueren, indem man jemanden vor sich hergehen lässt. Das heißt, du musst den vor dir Gehenden quasi opfern, um selber weiterzukommen. Das ist keine Resilienz, sondern die Anverwandlung an das, was ihnen die Welt, die sie umgibt, vorgemacht hat.

Endzeitszenarien sind nicht neu. Amerika steht möglicherweise vor einer Diktatur. Wie beklemmend wird der Abend?

Wir geben uns Mühe, dass er eher ein Ventil für Fragen wird, die wir uns gerade wohl alle stellen. Man kann sich das so vorstellen, vereinfacht gesagt, wie ein Kind, das verständnislos der beschleunigten Rückkehr von Geschichte gegenübersteht. Ich möchte nicht, dass es ein Abend wird, der nur hart ist, sondern auch Möglichkeiten zum Identifizieren und Nachdenken und Lachen bietet über eine Gegenwart – eine Gegenwart, in der wir uns wieder militarisieren.

Müsste das Stück angesichts der Erlebnisse der beiden nicht eigentlich „Das dicke Heft“ heißen?

Das ist lustig: Der Schauspieler Pierre Bokma hat auf unserem Arbeitstisch die niederländische Übersetzung der Trilogie liegen; „Das große Heft“ heißt hier: „Het dicke schrift“. Der Roman ist ja Teil einer Trilogie, und in den anderen Teilen wird auch immer von mehreren Heften gesprochen, die sie vollgeschrieben haben.

Beeinflusst der zeitgenössische Kriegsirrsinn in Europa Inszenierung und Schauspiel?

Ich glaube, das geht gar nicht anders. Wir sind ja alle Teilnehmer dieser Gegenwart. Insofern nehmen die Schwierigkeiten und die Skrupel der Darstellung auf der Bühne mit der fortlaufenden Vergegenwärtigung der Themen kontinuierlich zu. Die allgegenwärtigen Bilder von Kindern in Kriegsgebieten und die Tatsache, dass der Krieg uns näher rückt, machen den Umgang mit solchen Stoffen natürlich schwerer. Aber leider auch nötiger. Wie kann es sein, dass wir bereit sind, die Realitäten zu erzeugen, die Krieg und Waffen hervorbringen?

Würde eine Komödie da nicht mehr Spaß machen?

Vor der Bühne oder auf der Bühne? Wir als Team nähern wir uns jedem Stoff auf unterschiedlichen Wegen. Wir versuchen, unsere Form für den jeweiligen Text zu finden. Die große Herausforderung hier ist die Darstellung von Kindern im Krieg und dass es ein Roman ist und kein Stück. In Komödien bin ich eher nicht so gut (lacht) – das heißt aber ja nicht, dass es keinen Spaß macht. Es hängt eigentlich gar nicht am Stoff, die Arbeit macht Spaß in dem Moment, wo sie Sinn ergibt und das hängt immer auch mit den Menschen zusammen, die da miteinander arbeiten. Eugene O‘Neill sagte: „Only tragedies can make me happy“ (übers.: Nur Tragödien können mich glücklich machen, d. Red.).

Wird das auch ein Stück gegen neue Kriegsgewinnler, die neue Kriegswirtschaft und die neuen Kriegsanleihen – sorry, heute heißt das ja Sondervermögen?

Nein. Es geht eigentlich gar nicht darum, eine Meinung zu vertreten. Der Blick der Zwillinge, der ja erst einmal ein kindlich-naiver ist, ist zunächst nicht moralisch gefärbt und das will ich in der Inszenierung gerne beibehalten. Das, was Kristóf versucht, und das ist auch das, was die Zwillinge sich verordnen, ist nur zu sagen bzw. zu schreiben, was wahr ist. Subjektive Wahrnehmung ist verboten. Nur kurze, nicht emotionale Sätze. Und ich möchte es auch gerne im Empfinden des Betrachters lassen, was das mit uns macht.

Gibt es Hoffnung für die Zwillinge?

Ich kann da eigentlich nur persönlich darauf antworten. Die Hoffnung beginnt immer da, wo wir versuchen, nach unserem Ermessen Menschlichkeit beizubehalten. Für mich persönlich endet die Menschlichkeit vor dem Lauf einer Waffe. Und zwar jeder Waffe, auch der von uns hergestellten. Dass keine Ansicht kollektivierbar ist, ist leider, oder auch glücklicherweise, auch klar. Bei Ágota Kristóf ist die Hoffnung im ersten Teil der Trilogie insofern eingeschrieben, als dass wir nicht wissen, was die Kinder am Schluss für Erwachsene werden. Sie haben eine offene Zukunft. Die Zwillinge trennen sich am Ende und das ist weder ein Happy End noch das Gegenteil. Die Zukunft ist einfach offen.

Die Spielzeit am Schauspielhaus Bochum scheint übertitelt mit „Don‘t Panic“, widerspricht „Das große Heft“ dem nicht?

Ja, man bleibt manchmal vor dem Schauspielhaus stehen und fragt sich: Was wollt ihr mir damit jetzt sagen? Man kann das natürlich ganz einfach eins zu eins nehmen – obwohl wir uns mitten im Geschehen befinden, sollen wir Ruhe bewahren. Es ist nur die Frage, an wen sich das richtet. Wenn wir uns als die Verantwortlichen für unsere politischen und wirtschaftlichen Vorgehensweisen sehen, dann ist das eine andere Ansage, als wenn wir uns passiv dem Geschehen gegenübergestellt betrachten. Ich, als erwachsener Mensch, würde mich eher in einer Verantwortung für das sehen, was um uns herum geschieht – und ist dann nicht Panik die richtige Ansage? Zumindest sollten wir uns gut überlegen, was wir tun, oder was wir lassen sollten.

Das große Heft | Sa 1.11. (P) | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55

Interview: Peter Ortmann

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