Welcome beyond the thunderdome. Schon beim Einlass fauchen martialische Kreaturen, die im kleinen Dortmunder Studio eine Manege bewachen, in der sich das Schicksal des armen Soldaten Woyzeck erfüllen soll. Statt Sägespäne scheinen dort eher Staub, Sand und Dreck zu liegen, die Mitte ist ein tatsächlich drehbares „Kinderkarussell“, die Metapher für Kreislauf und Räderwerk, in dem sich der gebeutelte Woyzeck redlich abmühen muss. Die junge Regisseurin Jessica Weisskirchen inszeniert einen furiosen, fast dystopischen und sehr eigenen Büchner-Abend, der spannungsgeladen das staunende Publikum permanent in Schach halten will, auch mit einem grandiosen Woyzeck von Raphael Westermeier. Das gelingt, indem sie das erhalten gebliebene Fragment des früh verstorbenen Büchners (31 Szenen) stark kürzte und zusammen mit ihrem Dramaturgen Christopher-Faras Köhler neu verfasste. Da bleiben dann „nur noch“ vier Protagonisten übrig, die sich Rollen teilen oder spiegeln. Woyzeck trägt seine Schizophrenie auf dem Rücken, wohl ein parasitärer Rucksack, der den unendlichen Weiten des Startrek-Universums entsprungen scheint. Das ist sein einziger Kumpel und Zimmergenosse Andres, hier eine Stimme aus seinem Kopf. Und die lassen das arme menschliche Wesen nicht mehr los, der sich bemüht, seiner Geliebten und ihrem unehelichen Kind ein Auskommen zu sichern.
In Dortmund scheint die Geschichte ins Tierische geschlittert zu sein, viehische Vernunft ist angesagt, doch die triebhafte Natur schlägt sich Trampelpfade durch das Leben in der Garnison. Die martialische Kreaturen sind Marie (wild, flippig und überzeugend Linda Eisner) und der dauerphilosophierende Hauptmann (klasse wie immer Ekkehard Freye, auch sehr versiert in harter Exerziergymnastik und wundersamen Dressurtraben). Ins wilde Kleeblatt passt da nur noch die diabolische Doktorin (weißer Tiger mit silbernen Krallen: Nika Mišković), die auf der Suche nach Ruhm, nicht nur die Gesundheit ihres Schützlings aufs Spiel setzt. Jessica Weisskirchen ist die Dompteurin hinter den wilden Tieren, die gekonnt durch die kreisende Szenerie choreografiert (Hannes-Michael Bronczkowski) werden. Zwischen Berg und tiefem Tal wandert die Seele des geknechteten Woyzeck hin und her, wird – eine der schönsten Szenen in der Inszenierung – in einen beleuchteten Popcornautomaten voller imaginärer grüner Erbsen gestopft oder muss erschöpft die Mechanik des Karussells am Laufen halten.
Weisskirchen und die Protagonist:innen quellen nur so vor Regieeinfällen: Zwischen lustiger Heliumsprache und bösem Maskenball muss da unbedingt auch Ausstatter Günter Hans Wolf Lemke erwähnt werden für diese visuelle Reise ins triebhafte Unterbewusste. Mit der Courage ist das so eine Sache: Wie findet die Regie in diesem Chaos den Ausgang am Seeufer, nachdem das schrille Fest vorüber ist? Marie jedenfalls schien sich dort eher als Höllengeburt zu outen: „Ich bin ein Mann“ schreit sie vom Karussell und wird fast gewalttätig, der Chor singt das Lied vom „Jäger aus Kurpfalz“. Der Mord an ihr wird von Marie selbst kommentiert, Woyzeck hat seine Pflicht längst erfüllt. Zwei Schlächter treten auf. Grotesk, aber machbar. Ein klischeeloser Abend, also eine großartige Büchner-Fragment-Version.
Woyzeck | 9., 16., 23., 26.10. | Theater Dortmund, Studio (Schauspielhaus) | 0231 50 27 222
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Gewinnen um jeden Preis?
„Alle spielen“ im Studio des Dortmunder Theaters – Prolog 03/25
Wenn die Worte fehlen
„Null Zucker“ am Theater Dortmund – Prolog 01/25
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
Tödlicher Sturm im Wurmloch
„Adas Raum“ am Theater Dortmund – Prolog 04/24
Die weiße Institution Theater
Ta-Nia inszenieren am Theater Dortmund – Prolog 02/23
„Die Urwut ist ein Motor des Menschen“
Jessica Weisskirchen über ihre Inszenierung des „Woyzeck“ – Premiere 09/22
„Alle haben recht und gleichzeitig keiner“
Julia Wissert über „Kinderkriegen 4.0“ am Schauspielhaus Dortmund – Premiere 03/22
Turbokapitalismus im Pfirsichhain
Milan Peschel inszeniert „Früchte des Zorns“ – Prolog 09/21
Mit Bier aus den Höllen
Zukunft in Ruhrgebietstheatern – Prolog 02/20
Das ewige Prinzip Projektion
Das winterlich Weibliche im kurzen Monat – Prolog 01/20
„Einmal volle Kanne ins Fettnäpfchen“
Laura Junghanns über „Familien gegen Nazis“ – Premiere 10/19
Puffmutter mit Samtkragen
„Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“ in Dortmund – Theater Ruhr 03/19
Tanz als Protest
„Borda“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 06/25
„Das Publikum ist verjüngt und vielfältig“
Opernintendant Heribert Germeshausen zum Wagner-Kosmos in Dortmund – Interview 06/25
„Da werden auch die großen Fragen der Welt gestellt“
Kirstin Hess vom Jungen Schauspiel Düsseldorf über das 41. Westwind Festival – Premiere 06/25
Morgenröte hinter KI-Clouds
Das Impulse Festival 2025 in Mülheim, Köln und Düsseldorf – Prolog 05/25
Das Vermächtnis bewahren
Eröffnung des Bochumer Fritz Bauer Forums – Bühne 05/25
Rock mit Käfern, Spiel mit Reifen
41. Westwind Festival in Düsseldorf – Festival 05/25
Von und für Kinder
„Peter Pan“ am Theater Hagen – Prolog 05/25
„Der Zweifel als politische Waffe“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Premiere 05/25
Entmännlichung und Entfremdung
Festival Tanz NRW 2025 in Essen und anderen Städten – Tanz an der Ruhr 05/25
Von innerer Ruhe bis Endzeitstimmung
Die 50. Mülheimer Theatertagen – Prolog 04/25
Jenseits des männlichen Blicks
„Mother&Daughters“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 04/25
Gegen den ewigen Zweifel
Die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Prolog 04/25
„Kunst hat keine Farbe, Kunst ist Kunst“
Isabelle und Fabrice Tenembot vom Verein Afrikultur über das 4. Mboa-Festival in Dortmund – Interview 04/25