Wenn die Schatten länger werden und schließlich die ganze Welt Schatten wird, dann ist es Nacht. Das ist die Zeit, in der ein Taxifahrer zwischen zwei Fahrten sein Leben hinterfragt und zu dem Schluss kommt, er wolle keine mehr Maske tragen. Er will er selbst sein. So beschließt er: Taxifahrer Fridolin sei tot – es lebe der Vampir Graf Fridol! Dass dieser ihr Leben verändern wird, davon ahnt die betrunkene Gisela noch nichts. Damit ist sie nicht allein, denn das Publikum, das dieser ungewöhnlichen Geschichte beiwohnt, hat auch keinen Schimmer, wohin die Reise geht. Alles scheint möglich in einer Nacht, in der Gisela plötzlich Motten zu ihrem neuen Lieblingssnack erwählt. Mehr noch: Auch die Schauspielerin hat zu Beginn wohl nur eine vage Idee davon gehabt.
Motten zum Knabbern
Geleitet in ihrer Erzählung wird die Schauspielerin Amira Bakhit nicht nur von einer Tafel voll von Begriffen, die zuvor vom Publikum eingesammelt wurden. Soweit wäre das bekannte Improtheater-Kost. Amira Bakhit ist zwar die einzige Schauspielerin auf der Impro-Bühne, aber nicht allein dort. Die Musiker Michael Völkel und Jörg Meißner sind ihre Sparringspartner im Ensemble Unmittelbar nah aus dem mittleren Ruhrgebiet. Mit Saxophonen, Flöte, Gitarren und mehr setzen sie die Stimmung für die nächste Szene. Sie machen Geräusche, auf die die Schauspielerin ihre Figuren reagieren lassen muss.
Eine vage Idee
Das Zusammenwirken zwischen Instrumenten, Erzählung und Schauspiel ist bei Unmittelbar nah somit subtiler als beim Improvisationstheater mit mehreren Schauspielern, die mit Worten und Gesten kommunizieren. Und das macht Eindruck. Zwar beweisen die Musiker „Mut zum Misston“, wie Multiinstrumentalist Michael Völkel es ausdrückte, doch es braucht nur wenige Augenblicke, da entsteht wieder eine Klangkulisse aus Themen zu Figuren oder Orten, Anspielungen an Pop, Rock und Folk sowie dezentem Mickey-Mousing, also der musikalischen Akzentuierung des Bühnengeschehens.
Bitte mehr davon
An diesem Abend im Lokal Harmonie sammelt das Ensemble Begriffe zum Thema Nacht, als sich ebenjene tatsächlich über Duisburg-Ruhrort senkt. Das Publikum bringt, von Amira Bakhit wohl ein bisschen gewollt, die Vielfalt dieses Themas zum Ausdruck und stellt das Stück ins Spannungsfeld zwischen romantischer Verklärung, profanem Großstadtleben und Popkultur. Die einen rufen Begriffe wie „für sich sein“ in den Raum, die anderen „Geister, Geister!“ Aus diesem Spannungsfeld heraus lässt das Trio dann die eingangs angedeutete Geschichte sprießen, die Blüten aus Klamauk, Romanze und Alltagsbeobachtung trägt und die so kurzweilig war, dass die knappe Stunde viel zu schnell vorbei war.
Von Edinburgh in den Pott
Der Auftritt von Unmittelbar nah fand im Rahmen des Duisburg Fringe Festivals statt. Benannt nach dem Vorbild aus Edinburgh bietet dieses Festival der freien Kulturszene nicht nur eine, sondern viele Bühnen. Regionale bis internationale Künstler und Ensembles abseits des großen Kulturbetriebs beschenkten den Duisburger Ortsteil Ruhrort für ein Wochenende mit zahlreichen Überraschungen aus der darstellenden Kunst, Musik, Theater und mehr. Organisiert wird das Duisburg Fringe Festival vom Kreativquartier Ruhrort.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Überleben, um zu sterben
Bund will bei der Freien Szene kürzen – Theater in NRW 09/24
Das diffamierende Drittel
Einkommensunterschiede in der Kultur – Theater in NRW 12/23
Kompass des Körpers
„In-Side Sense" am FFT Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/23
Widerstand ist immer machbar
Januar-Programm der Freien Theater im Ruhrgebiet – Prolog 01/23
Ja, mach nur einen Plan …
In Köln wurde die Initiative Freies Theater gegründet – Theater in NRW 09/19
Alle sind gleich, manche sind gleicher
Wunsch und Realität bei Stadttheater und Freier Szene – Theater in NRW 06/18
Eine Heimat für den liebenswerten Trash
Schräges beim Fringe Recklinghausen – Prolog 06/18
Erfüllter Traum
Das FFT in Düsseldorf bekommt endlich eine neue Spielstätte – Theater in NRW 07/17
Viele Zelte stehen an der Ruhr
Die Ruhrfestspiele werden 70 und blicken aufs Mare Nostrum – Auftritt 04/16
Geld und Lametta
Zwei NRW-Bühnen bekommen den Bundestheaterpreis – Theater in NRW 02/16
Knisternde Luft
Theater Hagen unter neuem Spardruck – Theater in NRW 12/15
Subversive Aktivisten
NRW ist dreifach beim Doppelpass-Fonds vertreten – Theater in NRW 08/15
Auf einem Mistkäfer zum Olymp
„Der Frieden“ am Schlosstheater Moers – Prolog 09/25
Ein großartiges Schlachten
Elfriede Jelineks „Am Königsweg / Endsieg“ in Essen – Prolog 09/25
„Es geht auch um Fake News“
Regisseurin Lola Fuchs über „Der zerbrochene Krug“ am Schauspielhaus Dortmund – Premiere 09/25
„Kreativität entsteht manchmal aus Reduktion“
Marc L. Vogler über seine Arbeit als Hauskomponist der Jungen Oper Dortmund – Interview 09/25
Ein Fake für den Nobelpreis
„Der Fall McNeal“ in Düsseldorf – Prolog 08/25
Im Körper graben
„Every-body-knows…“ auf PACT Zollverein – Tanz an der Ruhr 08/25
Supernova oder Weltfrieden
„GenZ, weine nicht“ bei der Jungen Triennale in Bochum – Prolog 08/25
„Wir brauchen sichere, offene Orte“
Ab der Spielzeit 2025/26 leitet Dramaturgin Sabine Reich das Prinz Regent Theater in Bochum – Premiere 08/25
Schnöde Technik oder Magie?
„Oracle“ bei der Ruhrtriennale – Prolog 07/25
„Eine Welt, die aus den Fugen ist“
Kulturamtsleiter Benjamin Reissenberger über das Festival Shakespeare Inside Out in Neuss – Premiere 07/25
Der verhüllte Picasso
„Lamentos“ am Opernhaus Dortmund – Tanz an der Ruhr 07/25
Von Shakespeare bis Biene Maja
Sommertheater in NRW – Prolog 06/25
Tanz als Protest
„Borda“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 06/25