Und es begab sich zu der Zeit, da Ströme von Menschen über den Kontinent wanderten, sehr zum Missfallen derer, die sich bereits eingerichtet hatten und nun um ihr tägliches Brot fürchteten. Das Mare Nostrum stöhnte unter den bereits versunkenen Körpern, als Grenze hatte es längst ausgedient, als Ort der Entspannung wird es lange Zeit nicht mehr angesehen werden. Die Völkerwanderung vor der kommenden Klimaveränderung hatte längst begonnen, da besann man sich tief im Westen auf diese Thematik und spricht nun über die ehemalige Heimat jenseits des Fensters. Mare Nostrum hieß das Mittelmeer zu Zeiten der Römer, wir waren da noch an Eicheln gewöhnt.
Also: Die Ruhrfestspiele werden 70 und fragen im Jubiläumsjahr nach dem historischen Mare Nostrum und seinem Stellenwert als ehemalige Grenze und neue Begräbnisstätte. Der grüne Festival-Hügel in Recklinghausen wird wieder für einige Wochen Mittelpunkt des kulturellen Lebens des Ruhrgebiets und Ruheort für originale Produktionen aus Europa, den Maghreb-Staaten und den Kulturwiegen Griechenland und Türkei. 17 Uraufführungen sind im Programm der Ruhrfestspiele, so viele wie nie, aber auch diese Zahl wird kein Schlusspunkt sein. Das alte Motto Kunst für Kohle, aber auch Kohle für Kunst, zieht seit 1946, als die Bergleute der Zeche König Ludwig den Theater in Hamburg Brennstoff lieferten. Die traten dann mit ihren Schauspielern in Recklinghausen auf, die Ruhrfestspiele waren geboren.
Schauspieler treten auch 2016 immer noch hier auf, immer noch gegen Kohle, aber auch fürs Renommee. Wolfram Koch,David Bennent, aber auch Hannelore Elsner oderFritzi Haberlandt. Das ist legitimes Ruhrfestspiele-„namedropping“, füllt die Säle, minimiert eventuelle Verluste, also kein Problem für die alte Dame auf dem grünen Hügel. Eröffnen wird den theatralen Reigen das Burgtheater in Wien. „Der Diener zweier Herren“ von Goldoni: Zwei unglücklich getrennte Liebespaare, ein geschickter Diener, alles im dekadenten Venedig im 18. Jahrhundert, das könnte auch im Hamburger Hafen spielen, denken sie? Doch Goldoni wär nicht Goldoni und die Burg nicht die Burg, versuchen sie mal Karten für die Eröffnungspremiere zu bekommen. Wenn nicht, dann lieber „Das Blau in der Wand“, das neue Stück vom 90-jährigenTankred Dorst, der aber noch persönlich den Hügel unsicher macht, oder man schaut sich das Wirken der ehemaligen Festivalchefs Hansgünther Heyme mit „Am Rand“ von Sedef Ecer im Kleinen Theater und (seid dankbar Ruhries) Frank Castorfs Volksbühnen-Opus „Die Kabale der Scheinheiligen“ von Michail Bulgakow, vier Wochen nach der Berliner Premiere.
Und wem das alles zu viel höhere Kultur ist, dem helfen beim diesjährigen FRiNGE Festival 24 Ensembles aus 11 Ländern in 104 Veranstaltungen mit hochklassigem künstlerischen Spektakulum aus Artistik, Clownerie, Comedy oder auch viel internationalem Figurentheater. Musikalisch sei „The Mundorgel Projekt“ empfohlen, ein echt German – I call it „Ruhrgebietsband“. Leicht wird das für die Zuschauer nicht, im Frühtau zur Halde bis zum bitteren „Mondaufgang“, überall darf offen mitgesungen werden. 1951 im Kölner CVJM hat dieses rote Kultbuch (meins ohne Noten war damals gar nicht rot) seine Wiege gehabt. Also auch ein Jubiläum. Wem das die „falsche“ Kultur ist, dem sei vielleicht „Blind Man‘s Song“ im Fringe-Zelt genehm. Das Londoner „Theatre Re“ kommt mit seiner neusten Produktion aus Theater, Musik und Pantomime. Für die Kinder tanzen im Jubeljahr die Schotten, nicht im Rock, aber dafür in skurrilen Kostümen. „We Are The Monsters“ sagen Stammer Productions. Ein Tanztheater der Choreografin Colette Sadler, das im letzten Jahr auch in Edinburgh dabei war, ursprünglich aber mit dem Tanzhaus NRW entwickelt wurde. Den letzten Drink vor dem Ritt mit dem ÖPNV nimmt man im Recklinghäuser Ratskeller, wo William Ludwig und Dean Austin mit „Bar Songs“ Premiere feiern.
Ruhrfestspiele Recklinghausen | 1.5.-19.6. | www.ruhrfestspiele.de
Fringe | 17.5.-11.6. | www.fringefestival.de
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