Tiger Brown ist einer der ganz großen korrupten Bösen in der Brechtschen „Dreigroschenoper“. Mit dem Theaterstück mit Musik in der Regie von Barrie Kosky und dem Berliner Ensemble sind die diesjährigen Ruhrfestspiele spektakulär und vor einem begeisterten Publikum zu Ende gegangen. Mit knapp 59.000 verkauften Karten schaffte man eine Auslastung von knapp 80 Prozent. Kathrin Wehlisch als Tiger Brown musste an diesem Abend aber zu Hause bleiben. Ein positiver Test. Was sonst. Und schon der zweite im Ensemble.
Doch die Berliner:innen rocken den letzten Tag, Tilo Nest als Bettlerkönig Peachum übernimmt zusätzlich den Part, wenn er Pause hat und wenn Brown und er einen Dialog haben, ja dann liest eben die Soufflage vom Blatt ab. Das ergibt ganz neue Perspektiven für die Inszenierung und ist fast schon ein bisschen Brecht himself. Tausendsassa Mackie Messer, gespielt vom unglaublichen Nico Holonics, der sogar noch Zeit hat, seine Späße mit dem gefledderten Zustand zu machen, während er schier atemlos auf den Straßen Sohos zum Galgen schlittert, hält den einmaligen Abend zusammen. Kosky hat das Stück eh wie ein Jahrmarkt-Ketten-Karussell um die zentrale Figur choreografiert und das auf einer Bühne, die manchmal an Elvis‘ „Jailhouse Rock“-Bau erinnert. Das verfliegt aber am Abend, denn die zeitlosen Gassenhauer erwarten einfach das Mitmurmeln unter der leichten OP-Maske. Anfangs dominiert noch der Glitzervorhang, später werden die riesigen, teils beweglichen dunklen Baugerüste die Bühne beherrschen oder sie wie eine Arena umrahmen.
Die Hochzeit von Mackie und Polly sind der Auftakt für eine Dramaturgie, die strukturell als Versuch im epischen Theater (Brecht) zeigen will, dass alle, seien es Bettler oder Ausbeuter, seien es Verbrecher oder Verteidiger der bürgerlichen Ordnung, alle gute Geschäfte machen wollen. Die Frage bleibt, wie weit ist jeder bereit zu gehen, und dazu die Erkenntnis: „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Dies war schon in den goldenen Zwanzigern längst die bestätigte Maxime unter dem Mond über Soho. Ergo amüsiert Mackie nicht nur die Damen der Gesellschaft und des Rotlichtviertels, sondern er klaut und mordet sich grinsend und singend durchs Leben. Die wilde Menge an Moritaten, Songs und Balladen strukturieren den Abend fast mehr als die kletternde Choreografie der Protagonisten. Dazu dampft das Orchester nicht nur perfekt durch die Oper, sondern muss ab und an in der Handlung tatkräftig beisteuern. Dass Mackie ein Stück Partitur im Eimer verbrennt, erinnert an die Lebensgeschichte des genialen Komponisten Kurt Weill. Eben: Der Mensch lebt nur von Missetat allein. Pause. Die Masken fallen bald.
Nach der Pause steuert alles auf das III. Dreigroschen-Finale zu. Die endgültige Verhaftung und Erhängen des Übeltäters. Dass wieder der reitende Bote der Krone kommt undverkündet, dass Mackie Messer begnadigt ist, in den Adelsstand erhoben wird und auch noch ein Schloss und eine satte Leibrente erhält, kann meine Nachbarin nicht verstehen.„Warum das denn?“, murmelt sie. Erstaunlich und schön: You never get a second chance to make a first impression.Der Vorhang fällt, der Standing Ovations-Klatschmarsch kann beginnen. Sie haben ihn sich redlich verdient.
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