Bertolt Brechts Knopfaugen blicken noch von der Leinwand auf die ZuschauerInnen, die im Schauspielhaus ihre Plätze suchen. Da steht Nina Hagen bereits mit zerzausten, bunten Haaren auf der Bühne. „Setzt dich, lieber Gast“, wiederholt sie mit ihrer kratzigen Whiskey-Stimme. Doch der liebe Gast drängt noch immer in den Saal und sucht seinen Sessel. Während die Sängerin bereits auf ihrer Gitarre loslegt. Unkonventionell und exzentrisch bleibt es auch an diesem Abend, der zwischen Punk-Happening und Brecht-Hommage changiert.
Die Lieder des Dichters wurde in der Musikgeschichte immer wieder neu aufgelegt: von Liedermachern wie Wolf Biermann und Pop-Ikonen wie David Bowie. Oder gleich aufgemotzt wie der „Alabama Song“ der „Doors“. Auch Nina Hagen verpackte diese Lieder bereits 1998, dem hundertsten Geburtsjahr des Dramatiker, zu einem Brecht-Punk-Abend im Berliner Ensemble. An gleich zwei Abenden trat die gebürtige Ost-Berlinerin damit nun auch im Schauspielhaus Bochum auf.
Und die Verbindung zu Brecht reicht lange zurück. Bereits Hagens Mutter gehörte als junge Schauspielerin zum Ensemble, als der berühmte Stückeschreiber ins noch immer vom Krieg versehrte Deutschland zurückkehrte. „Sie kann sich noch erinnern, dass Brecht ihr Pausenbrote gab. Damals hatten ja alle Hunger.“ Das war's dann aber auch an nostalgischen Erinnerungen.
Denn die „Godmother of Punk“ rückt in ihren Anmoderationen vor allem die Aktualität dieses „Friedensapostels“ in den Fokus: Brechts „Kinderhymne“ oder der Kanonensong aus der „Dreigroschenoper“ als Abgesang auf die gegenwärtigen Kriege und Aufrüstungen. So landet Hagen prompt bei Heiko Maas. Denn: „Unser Außenminister hat sich für diese Wetterwaffen stark gemacht.“ Und wer mehr über das militärische Knowhow, das das Klima durcheinander wirbeln soll, wissen will, denen empfiehlt die Entertainerin eine spannende Doku, die neulich im Privatfernsehen lief.
Ohnehin scheinen TV-Ausstrahlungen keine unbedeutende Rolle für die Punkrock-Diva zu spielen. Von Doku-Sendungen über Hitlers vermeintliche Flucht nach Argentinien bis hin zu RTL-Investigativ-Enttarnungen von Günter Wallraff. Denn der berühmte Undercover-Journalist deckte jüngst in einer Reportage die unmenschlichen Verhältnisse in vielen Psychiatrien auf. Zustände, denen auch Nina Hagen entgegentritt: etwa als Schirmherrin der Initiative „PatVerfü“, die vor psychiatrischem Zwang und Entmündigung schützt. „Ich setze mich für eine menschenrechtskonforme Psychiatrie ein“, so ihr Plädoyer.
Eine klare Haltung nimmt die Sängerin auch beim Thema Prostitution ein: „In einer Zeit, in der auf eine gendergerechte Sprache geachtet wird, sollten Frauen vor Gewalt geschützt werden.“ Ihre Forderung: Bestrafung von Freiern nach dem skandinavischen Modell. Eine lange Anmoderation, auf die ihre Interpretation der „Legende der Dirne Evelyn Roe“ folgt. Eines der vielen Brecht-Lieder, die Nina Hagen an diesem Abend mit Songs von Johnny Cash oder Bob Dylan verbindet. Oder eigenen Hits wie „Schachmatt“. Spätestens dann ist sie wieder beim Punk gelandet.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Glücklich bis ans Ende?
„Star-Crossed Lovers“ in Essen – Prolog 03/24
Ein Baum im Herzen
„Eschenliebe“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 03/24
Liebe und Gewalt
„Told by my Mother“ in Mülheimer a.d. Ruhr – Tanz an der Ruhr 03/24
Über die Familie
45. Duisburger Akzente – Festival 03/24
Sternfahrt zum Shoppen
„Einkaufsstadt, 4300“ von Trio ACE in Essen – Prolog 03/24
„Im Gefängnis sind alle gleich“
Regisseurin Katharina Birch über „Die Fledermaus“ an den Bochumer Kammerspielen – Premiere 03/24
Bakterien im Spa
„Ein Volksfeind“ am Theater Dortmund – Prolog 02/24
Vom Elvis zum Cowgirl
„The Legend of Georgia McBride“ am Theater Oberhausen – Prolog 02/24
„Es kommt zu Mutationen zwischen den Figuren“
Intendant Ulrich Greb inszeniert „Der Diener zweier Herren“ am Schlosstheater Moers – Premiere 02/24
Postapokalyptische Manege
„Essence“ von Urbanatix am Schauspielhaus Bochum – Bühne 02/24
Die Erbsen sind immer und überall
„Woyzeck“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Prolog 02/24
Fortschritt ohne Imperialismus
„Libya“ auf PACT Zollverein – Tanz an der Ruhr 02/24
Poesie ums eigene Ich
Next Level Slam in Bochum – Bühne 01/24
Hochzeiten und Hüte
„Hello, Dolly“ am MiR in Gelsenkirchen – Tanz an der Ruhr 01/24
„Ich finde unbekannte Werke spannend und befreiend“
Regisseurin Tatjana Gürbaca über „Fausto“ am Aalto-Theater Essen – Interview 01/24
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
„Die Geschichte wurde lange totgeschwiegen“
Ebru Tartıcı Borchers inszeniert „Serenade für Nadja“ am Theater Oberhausen – Premiere 01/24
Subkultur trifft Artistik
„X-Mas-Shows“ von Urbanatix in der Grugahalle Essen – Festival 12/23
„Die Zuschauer sollen die Zeit vergessen“
Christian Eggert über den Umzug von Urbanatix nach Essen – Interview 12/23
Nouvelle vague in der Katakombe
„Außer Atem“ am Bochumer Rottstr 5 Theater – Prolog 12/23
„Ein Erlebnis, in das man eintauchen muss“
Vitali Alekseenok wird Chefdirigent der Deutschen Oper am Rhein – Interview 12/23
„Der Mensch braucht Freiraum, um Sinnloses machen zu dürfen“
Rafael Sanchez über „Jeeps“ am Essener Grillo-Theater – Premiere 12/23
Kompass des Körpers
„In-Side Sense" am FFT Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/23
Kann eine KI Puccini übertrumpfen?
„Nessun dorma“ am Grillo-Theater in Essen – Prolog 11/23
Trainingsraum für Begegnungen
„Nah“ im Maschinenraum Essen – Tanz an der Ruhr 11/23