Selbst die Elbe hat keinen Platz für diesen Beckmann, einen Kriegsheimkehrer. Er sprang in den Fluss, um sein Leben zu beenden. Doch im Traum erscheint ihm die Elbe als resolute Frau, die den Suizidalen zurückweist: zu armselig sei dieses junge Leben, als dass der Strom ihn aufnehme. Seine Entgegnung, dass er sein „ganzes Leben Tod sein und pennen“ wolle, gilt in Zafer Tursuns Inszenierung nach Motiven von Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ gleich für mehrere Beckmanns. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan oder der Ukraine. Sie kehren nicht heim, sie kommen an.
Unter dem Titel „Freischuss“ konzipierte Tursun einen szenischen Solidaritätsabend für all jene, die aus den Kriegsgebieten fliehen – ob vor russischen Bomben in der Ukraine oder vor den Angriffen des Nato-Mitglieds Türkei in Kurdistan. Das Grillo-Theater verzichtete auf Eintrittsgelder für die Aufführung, das Publikum konnte stattdessen freiwillig für Flüchtlinge spenden.
Keine Ohren für das Leid
Ausgangsstoff bildet Borcherts 1947 veröffentlichtes Nachkriegsstück, in dem der posttraumatisierte Beckmann aus Russland heimkehrt, ohne im postfaschistischen Deutschland wirklich anzukommen. Tursun skelettiert das expressionistisch geprägte Stationendrama als „Draußen vor den Türen“ auf die wichtigsten Passagen: Beckmanns Ankunft vor dem einstigen Haus seiner Eltern, seine Begegnungen mit seinem Oberst a.D. oder mit einer jungen Frau; sie bescheinigt Beckmann, mit seiner Gasmaskenbrille wie ein Gespenst auszusehen.
Und das gilt auch für die gegenwärtig Ankommenden, um die sich dieser Bühnenabend dreht. Physisch haben sie den Krieg hinter sich gelassen: in Form von Beckmanns Kniescheibe, die – anders als in Borcherts Vorlage – nicht in Stalingrad, sondern in Syrien verloren ging. Silvia Weiskopf, aber auch Zafer Tursun schlüpfen in die Rolle dieses Gespenstes, das sich durch eine Gesellschaft hinkt, die keine Ohren für das Leid der Ankommenden hat. Dazu zählt ihr einstiger Oberst, den Dennis Bodenbinder als Wrack im Uniformoberteil gibt, das sich fest an die Schnapspulle krallt.
Verheizt und diskriminiert
Ihm legt Tursun auch Gaulands Vogelschiss-Rede in den Mund, eine neurechte Chiffre für einen Revisionismus des faschistischen Vernichtungskriegs. Dass Beckmann danach über einen, ihn jede Nacht quälenden Traum monologisiert, in der ein General mit Armprothesen auf einem Xylophon aus Menschenknochen musiziert und anschließend jede Verantwortung für die Armee der Toten von sich weist, sitzt dramaturgisch als Anklage der bellizistischen und rassistischen Hetzer von heute und damals.
Immer wieder treten die vier Bühnenakteure aus der Darbietung heraus, um Texte von Shehab Fatoum, Laura Friedmann und Zafer Tursun ins Mikro zu sprechen. Darin geht es um Menschen, „die alles verloren haben und in Deutschland eine neue Heimat gesucht haben“. Während sie sich hier in Stammtischreden wiederfinden, in denen sie verdächtig als neue Mitbürger genannt werden, ohne dass jemand dabei noch die Stimme senke. Es sind die jungen und traumatisierten Beckmanns von heute, verheizt von Kriegstreibern, diskriminiert von Rassisten. Die letzten Worte gehören an diesem Bühnenabend dem kurdisch-türkischen Sänger Ahmet Kaya. In seinem Lied „Hani Benim Gençliğim“ heißt es: „Die haben meine Jugend ohne mein Wissen geklaut.“
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