Im Interview sprechen die Intendantinnen Christina Zintl und Selen Kara über ihre zurückliegende erste und die kommende Spielzeit am Schauspiel Essen. Unter dem Motto „Common Ground“ (in etwa: Gemeinsame Basis) will das Theater gegen die Polarisierung in der Gesellschaft arbeiten. Geplant sind u.a. zwölf Premieren, die Hälfte davon sind Uraufführungen.
trailer: Nach Ihrer ersten Saison: Worüber sind Sie besonders glücklich, dass es gelungen ist? Es gibt ja in jeder Saison Risikofaktoren.
Christina Zintl (CZ): Das Risiko war der Neustart – ein neues Ensemble, ein neuer Spielplan ohne Übernahmen. Man muss sich dann erst mal kennenlernen. Wir können stolz darauf sein, dass es uns gelungen ist, ein breites Publikum zu erreichen, fast alle Abonnent:innen mitzunehmen, aber auch Menschen neu zu gewinnen, die noch nicht hier im Theater waren, in den ersten Produktionen die Vielfalt an Ästhetiken, Erzählweisen und Geschichten zu zeigen und die Verbindung von klassischen Stoffen mit neuen Perspektiven und zeitaktuellen Stoffen hinzubekommen. Wir haben ein Publikum erreicht, das sich verschränkt, also nicht einzelne Publikumsschichten mit Spezialprojekten abgeholt. Das fordert viel Kommunikation mit den Regieteams über die Art und Weise des Erzählens.
Selen Kara (SK): Unser vielfältiges Programm mit 14 Premieren für die erste Spielzeit ist gut aufgegangen, mit Produktionen für junge Menschen wie für das Abo-Publikum, aber auch in experimentellen Sachen, in denen wir unsere ‚Komfortzone‘ verlassen und etwa mit einem Container vor die Türe oder wie bei „Einkaufsstadt“ an völlig andere Orte gegangen sind. Mit „Doktormutter Faust“ waren wir zu den Autor:innentagen in Berlin eingeladen. Es ist schön zu merken, dass unsere Arbeit in der Stadt positiv aufgenommen wird, aber auch überregional ein großes Interesse besteht.
Geben Sie mir mal ein Beispiel: Wo ist diese Verschränkung des Publikums besonders gut gelungen?
CZ: Ich glaube, das gilt für fast alle unserer Produktionen. In „Doktormutter Faust“ ist der Klassiker erkennbar in Titel und Dramaturgie. „Der gute Mensch von Sezuan“ war auch ein klassischer Titel, aber in total zeitgemäßer Ästhetik und mit viel Humor erzählt. „Showtime“ ist ein unterhaltsamer und sehr menschlicher Abend, der über verbindende gemeinsame Erlebnisse funktioniert. Bei „Rausch“ haben viele Menschen den Film gesehen und wurden darüber angezogen, aber in der Spielweise ist der Abend stark auf das Schauspiel konzentriert und befriedigt das Bedürfnis nach einer Erzählweise an den Figuren entlang. Die unterschiedlichen Kritiken haben das sehr wohl bemerkt. Bei einer experimentellen, sehr formalen Produktion wie „Einkaufsstadt“, die fast wie eine Installation wirkt, hat das Thema viele angesprochen: Wie waren die Einkaufsstraßen noch in den Sechzigern und was wird aus unserer Innenstadt? Was hat Essen für eine Identität?
Wenn Sie auf die kommende Spielzeit schauen: Es gibt ja verschiedene Linien, die Sie weiterziehen. Wo sehen Sie für sich den Schwerpunkt, wo wollen Sie etwas bewegen?
SK: Wir versuchen weiter, breitspurig zu fahren und nicht nur einen Schwerpunkt zu setzen. Wir haben Stückaufträge vergeben, setzen somit einen Fokus auf zeitgenössische Dramatik, haben aber auch durch Stücke wie „Peer Gynt“ oder „Hamlet“ klassische Stoffe auf dem Spielplan. Unser Motto „Neues Deutsches Theater“ entwickelt sich weiter und bekommt für die zweite Spielzeit einen neuen Zusatz: „Under Construction“ (übersetzt: „Bauarbeiten im Gange“, Anm. d. Red.) wird abgelöst durch „Common Ground“. Das heißt: Im Dialog sein, verschiedene Perspektiven auf der Bühne und das Publikum zusammenbringen und in einen Austausch bringen.
CZ: Wir haben einen Prozess angekündigt, dessen Ziel wir nicht in einer Spielzeit erreichen wollten. „Common Ground“ drückt jetzt die Hoffnung aus, den Prozess zu einem guten Ergebnis zu bringen, sich auf einer gemeinsamen Basis zu begegnen. In diese Richtung sind auch unsere Begleitprogramme zu sehen. Wir werden uns noch stärker mit lokalen Gruppen und Menschen aus der Stadt verknüpfen und in Kooperationen denken. Mit „Der Reisende“, einer Inszenierung eines Romans von Ulrich Alexander Boschwitz von 1939, schlagen wir den Bogen von der historischen Situation nach den Novemberpogromen zu aktuellen Lebenswirklichkeiten und gehen an politisch-gesellschaftliche Fragen ran, aber mit viel Humor und großer Leichtigkeit und Musikalität.
Das führt zur grundsätzlichen Frage, wie Sie Theater in der Gesellschaft verorten. Ist Theater ein Ort tagespolitischer Debatten in künstlerischer Form oder stellt es ganz andere, grundsätzliche Fragen, zum Beispiel zum Gelingen oder Scheitern von Beziehungen oder zum Abgründigen im Menschen?
CZ: Ich denke, Theater verbindet potentiell beides – es kann aktuelle Debatten in einen kulturellen Kontext von Geschichten, Erfahrungen und Erinnerungen stellen. Dadurch kann es, denke ich, Menschen anders berühren und erreichen. Wir haben „Memories of snow“ in der nächsten Spielzeit, ein Stück der jungen rumänischen Autorin Teona Galgotiu. Sie nimmt ein politisch aktuelles Thema, die Klimakrise, auf, verknüpft es aber mit einer Personenanordnung wie aus einem Ibsen-Stück: Eltern, Kinder, Familie. Darin verweben sich aber viele Stoffe und Texte, die viel älter sind. Sie gestaltet damit ein postapokalyptisches Szenario, stellt eine Überzeitlichkeit her. Das, finde ich, kann Theater besonders gut.
Was wünschen Sie sich von Ihrem Publikum in der kommenden Saison?
SK: Für uns ist das Theater ein Ort der Begegnung. Mit unserer Kunst möchten wir möglichst viele Menschen erreichen und mit ihnen in den Austausch gehen. In Zeiten, wo bestimmte Diskurse polarisierend sein können, ist es uns wichtig, durch die Kunst, die wir auf unseren Bühnen anbieten, aber auch durch Talk-Reihen und Nachgespräche mit dem Publikum im Dialog zu bleiben.
CZ: Und wir wünschen uns, dass das Publikum mit uns mitgeht, wenn wir nach dem bevorstehenden Ende unserer kleinen Spielstätte Casa verschiedene Orte bespielen und in andere Stadtteil gehen.
Erste Premiere: Der Reisende | Fr 13.9. 19.30 Uhr | Grillo-Theater, Essen | 0201 812 22 00
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