Im künstlerischen Spannungsverhältnis zwischen Theater, Kino, Fernsehen und neuerdings auch Streaming-Portalen im Internet sind monetäre Erfolge heute abhängig von Marketing und äußerlichem Spektakulum. Frei von Klischees bleiben oft nur noch Bühne und Zelluloid. In seinem Dogma 95-Film „Das Fest“ (Dänemark/Schweden, 1998) zeigt Regisseur Thomas Vinterberg eine wohl situierte Familie als ein mehrköpfiges Ungeheuer, das seine eigenen Kinder fast verschlingt.
Das schleichend nette Böse steht nun in der Regie von Karsten Dahlem auf der Essener Bühne. Fast analytisch wird dabei eine Geschichte aus der Vergangenheit die opulente Feier für Familienoberhaupt Helge – er wird 60 – aus den Angeln heben. Drei seiner Kinder sind gekommen, um abzurechnen.
Ein trauriger Anstoß war dabei, dass ihre Schwester ein Leid nicht mehr ertragen konnte und sich erst vor wenigen Monaten umgebracht hat. Der älteste Sohn enthüllt nun beim üppigen Essen, dass er und seine Schwester als Kinder sexuell missbraucht wurden. Der Jubilar wehrt sich nach Kräften gegen die enthüllte Tragödie, doch was das graue Tageslicht erst einmal erblickt hat, wird von der Handkamera gnadenlos durch die Räume und verwirrende Handlungsstränge verfolgt.
Die verwaschene Ästhetik ist Teil des Dogma-Konzepts, das Vinterberg und Lars von Trier 1995 medienwirksam unterzeichneten und dass unter anderen Forderungen eben auch nur die Handkamera und auf keinen Fall künstliche Beleuchtung zuließ, was oft zu grobkörnigen, eher dusteren Szenen führte.
Inwieweit Karsten Dahlem das in Essen auch beherzigt und ob das überhaupt im Theater realisierbar ist, bleibt abzuwarten – auch, ob wieder das Medium Film wie seinerzeit in Dortmund eine tragende Rolle spielen wird. Livemusik wird es geben und ist nach dem Dogma 95 Manifest ja auch erlaubt, egal ob sie die flammenden Reden der Verteidiger:innen oder den anhaltenden Schmerz der Misshandelten untermalen. Am Schluss von „Das Fest“ stehen immer die komplette Zerstörung einer Familie und ein offenes, gar nicht mehr so festliches Ende. Ein Thema, das ein Vierteljahrhundert später immer noch brandaktuell ist.
Das Fest | 26.8. (P), 31.8., 17., 18., 29.9., 28.10. | Grillo Theater Essen | www.theater-essen.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Und immer dieser Lärm
„Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ am Grillo-Theater – Prolog 10/22
Welt unter Glas für Brillenträger
„Die Wand (360°)“ von Thomas Krupa – Prolog 08/22
Das Nichtankommen der Beckmanns
Solidaritätsabend nach Motiven von Wolfgang Borchert in Essen – Bühne 05/22
Let´s play master and servant
Gustav Rueb inszeniert in Essen Samuel Becketts „Endspiel“ – Bühne 09/21
Von Jahoo, einem Unsichtbaren und Prinzessinnen
Ruhr-Theater-Ostereier im April – Prolog 03/20
„Diese Songs drücken ähnliche Dinge aus“
Florian Heller und Christian Tombeil über „After Midnight“ – Premiere 12/19
Heute geht es auch ohne Brandbeschleuniger
„Biedermann und die Brandstifter“ in Essen – Theater Ruhr 11/19
Fantasie ist wichtiger als Schokolade
Außergewöhnliche Familienstücke – Prolog 11/19
„Eine Mischung aus Komik und politischer Ernsthaftigkeit“
Regisseur Moritz Peters zu „Biedermann und die Brandstifter“ – Premiere 09/19
Schaut wie die Kirschbäume fallen
„Der Kirschgarten“ in Essen – Theater Ruhr 06/19
Morden als Maloche
Harold Pinters „Der Stumme Diener“ in Essen – Theater Ruhr 06/19
Wenig Töne, viel Ton
Der dänische Gitarrist Jakob Bro kommt nach Essen – Improvisierte Musik in NRW 02/19
Multiple Zukünfte, sinnlos zerstört
„Die Brücke von Mostar“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/23
Täglich 0,5 Promille
„Rausch“ am Schauspiel Essen – Prolog 09/23
Antworten, die verschwiegen werden
„And now Hanau“ in einem Oberhausener Ratssaal – Prolog 09/23
Gebremster Senkrechtstart
Erste Premiere am Aalto-Theater Essen: Giuseppe Verdis „Macbeth“ – Oper 09/23
Nunca más
„Memoria viva“ im Fritz Bauer Forum in Bochum – Bühne 09/23
Britney Spears bis Working Class
HundertPro Festival im Ringlokschuppen Ruhr – Festival 09/23
Die Fallstricke des Anthropozäns
„Früchte der Vernunft“ an den Bochumer Kammerspielen – Prolog 09/23
Dem Horror entfliehen
„The Visitors“ bei der Ruhrtriennale – Tanz an der Ruhr 09/23
„Dass wir vor lauter Geldfetisch nicht mehr wissen, wo oben und unten ist“
Regisseur Kieran Joel über „Das Kapital: Das Musical“ am Theater Dortmund – Premiere 09/23
Bewegte und bewegende Formen
20 Jahre Ballett in Dortmund – Prolog 08/23
Eine ganze Stadt als Manege
30. Internationales Welttheater der Straße – Festival 08/23
Den Nerv der Zeit erkannt
Screen Dance Academy #3 in Wuppertal – Festival 08/23
Kontrollverlust und Lüste
Zwei „hemmungslose“ Schauspiele bei der Ruhrtriennale – Prolog 08/23