Wie können wir das überhaupt auseinanderhalten? Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – das überlappt sich zuweilen wie die Hände von Amal Omran, die während ihres Prologs beherzt gestikuliert. Schließlich verrenkt sich die syrische Schauspielerin auf der Bühne auch geschichtsphilosophisch: „Kann ich frei von Zeit sein?“, fragt Omran, seit 2017 im Collective Ma’louba.
„Kassia – Song of Care(volution)“ heißt diese Musiktheaterperformance, die zunächst so verkopft daherkommt. Die Koproduktion der Theatergruppe Kainkollektiv, des Komponisten sowie Choreographen Burak Özdemir und des Kammermusik-Ensembles Musica Sequenza widmet sich der Äbtissin und Komponistin Kassia, die in der Mitte des 9. Jahrhunderts in Konstantinopel das byzantinisch-kaiserlich strukturierte Patriarchat mit einer rebellischen Geste aufmischte. Denn als sich Kaiser Theophilos auf „Brautschau“ befand, stieß er auf Kassia und stellte ihr einen Heiratsantrag. Kassia sagte: nein.
Äbtissin vs Kaiser
Die Äbtissin gab der Majestät nicht nur eine Abfuhr und begegnete ihm mit theologischem Scharfsinn, sondern gründete obendrein mit ihrem Vermögen ein Frauenkloster, in der sie komponierte und dichtete. Für Theophilos war das ein Affront, galt er doch nicht gerade als Feingeist der Gleichberechtigung, wie eine überlieferte Behauptung von ihm gegenüber Kassia verdeutlicht: „Alles Übel fließt durch den Körper der Frau.“
Die Inszenierung im Ringlokschuppen holt diese Figur der orthodoxen Kirche aus der (theologischen) Versenkung und kontextualisiert sie als eine Art Urfeministin. Gefragt, welches Geschlecht sie angehöre, winkte sie ab, als hätte sie bereits in ihrem Kloster die heteronormative Matrix hinter sich gelassen. Und ihre Kunst avancierte zu einem „Kampf der Geschlechter um öffentliche Darstellung“, wie es auf einer der projizierten Texte heißt, an denen fast ständig die Augen kleben, sofern Zuschauer:innen Näheres über den Kontext erfahren wollen.
Das sind natürlich Motive, die heute ebenso diskutiert werden: Repräsentation oder Quotierung, schließlich die Zerstörung von Bildern aus dem Kloster, die Theophilos vorschwebt, aber nicht gelingt. Dieser Sturm auf die Gleichberechtigung wiederholt sich in der Gegenwart, etwa militant-terroristisch durch Salafisten im Mittleren Osten.
In die Gegenwart
Amal Omran beschreibt eine solche Szene aus der Gegenwart, bereits ihr philosophischer Prolog umklammert diese Krux: Wie lässt sich gegenwärtig leben, ohne dass die Vergangenheit spukt, wenn Ideen wie diese der Komponistin Kassia noch Jahrhunderte später nicht gesellschaftlich eingelöst werden? Zwischen Musik, Oper, Text, Tanz, Film und Performance beschwört diese Aufführung ein Gespenst des Feminismus.
Greifbar wird es nicht immer an diesem Abend. Die Tänzerin Young-Won Song stampft, boxt, rotiert und referiert dazu ihre „Ich hasse“-Liste: Ungerechtigkeit, Kämpfen, Verlieren, Frauendasein. Ein biblischer Exkurs interpretiert Evas Biss in den Apfel als politische Verschwörung gegen das Patriarchat. Das Musica Sequenza-Ensemble spielt großartig. Meereswellen schwappen auf der Leinwand. Amal Omran reiht, unterstützt vom Ensemble in bunten Kostümen, Porträtfotos auf der ganzen Bühne. Und holt schließlich aus zum Epilog.
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