Beim Betreten und Besetzen der Tribüne der Bühne 3 des Ringlokschuppens sieht sich das Publikum der eigenen Situation gegenüber: Eine kleine, schummrig beleuchtete Tribüne, darauf fünfzehn Menschen – zum Teil plaudernd, zum Teil schon in kerzengerader Anspannung und alle auf ihre Art theaterfein gemacht. Dann wird es auf beiden Seiten dunkel. Unüblich: Der Applaus beginnt schon jetzt und nicht erst am Ende des Abends. Leise und verhalten beginnen die Darstellenden auf der Tribüne zu applaudieren. Leise und lange. So lange, dass genug Zeit ist, sich auf die Geräusche einzulassen, die ASMR Gehirn-Massagen gleichen: Mal erinnern sie an trommelnde Regentropfen, mal an ein Schmatzen, mal an Hufgetrappel.
Als das Licht plötzlich angeht, werden die Darstellenden, (oder besser) ClaqueurInnen endlich sichtbar. Die Geräusche bekommen Gesichter. Erstaunlich, wie viele Arten des Klatschens es gibt. Fast ist es seltsam, dass es für diese Kulturtechnik, die individuell so unterschiedlich aussieht, nur ein Wort gibt. Es wird gewedelt, gefuchtelt, geschlagen. Die Bewegungen sind nicht einstudiert. Alle applaudieren, wie sie es immer tun. Unweigerlich stellt sich die Frage: Wie sehe ich eigentlich selbst beim Klatschen aus? Diesen Vorgang, den ich noch nie hinterfragt habe, der Konvention, die ich artig bediene, mal mehr, mal weniger begeistert?
Die Gruppe : objective : spectacle : widmet sich in Mülheim nicht zum ersten Mal dem Applaus, dieser „singulären Geste kollektiver Affirmation“, wie es in der Stückankündigung heißt. Das „interdisziplinäre Performance-Label“ rund um Clementine Pohl und Christoph Wirth war mit dem Abend bereits in Basel und Lausanne zu Gast. Nach Mülheim folgt nun noch Berlin. Das Besondere: „CLAP“ wird für jeden Ort neu entwickelt, der Chor neu zusammengesetzt aus Menschen vor Ort, nicht mit professionellen SchauspielerInnen, sondern mit interessierten und begeisterten Laien. : objective : spectacle : reiht sich damit ein in die lange Tradition des Ringlokschuppens, Theaterpädagogik nicht isoliert vom Kunstbetrieb zu betreiben, sondern die Arbeit mit Laien auf ein professionelles Niveau zu heben und konzeptionell einzubinden.
Die fünfzehnn Darstellenden in „CLAP“ sind bereit, sich zu verausgaben und Schwielen an den Händen in Kauf zu nehmen: Die jubelnde Laolawelle, das Höflichkeitsklatschen, das lautlose Händewedeln (großer Lacher und kurze Erholung für die Handflächen). Aber woher kommt eigentlich dieses kollektive „Energie-Entladen“ am Ende einer Vorstellung? Seit wann gibt es diese Konvention? Und wer hat sie erfunden?
Ein vereinzelter Mann an der Seite der Bühnentribüne (Christoph Wirth), der immer wieder auf und abtritt ohne etwas zu sagen und schließlich doch das Mikrofon benutzt. Aber er gibt keine Antworten, sondern stellt nur noch mehr Fragen: Wussten Sie, dass bei Lady Dis Beerdigung applaudiert wurde? Das Stalin mal jemanden deportieren ließ, weil er als erster aufgehört hatte zu klatschen? Dass Richard Wagner den Applaus gehasst hat, weil er sein Kunstwerk dadurch gefährdet sah und ihn deshalb an den Schluss der Aufführungen setzte? Doch keine der Fragen wird vertieft. Das Motto lautet schließlich: Nicht reden! Klatschen! Wirth interessiert sich dafür, mit was für Applaustypen er es im Publikum zu tun hat. Typ „bürgerlich-verhalten“? Typ „Es-nicht-aushalten-können“? Typ „Nicht-aufhören-wollen,-obwohl-die-Darstellenden-längst-in-der-Kantine-sind?“ Es ist schade, dass an dieser Stelle des knapp einstündigen Abends der Chor aus dem Fokus gerät. Es ist zwar lustig, von der Sitznachbarin zu erfahren, dass sie eine ironische Klatscherin ist. Noch schöner wäre es aber gewesen, dies von den Einzelnen des Chores zu erfahren – nicht sprechender, sondern klatschender Weise.
Spannend wird es dann wieder, wenn sich ein gemeinsamer Chor aus Publikum und AkteurInnen ergibt. Applaudieren Sie für Meinungsfreiheit? Geschlossene Grenzen? Donald Trump? Empathie? Die Chor-KlatscherInnen bejubeln jeden Punkt, die Einzelnen im Publikum entscheiden selbst, ob sie ihre Hände bewegen oder nicht. Der einen oder der anderen ist es gewiss passiert, dass sie sich von dem Jubel des Chors haben mitreissen lassen und versehentlich z.B. für geschlossene Grenzen klatschten. An dieser Stelle liegt das politische Potential des Abends, in Zeiten, in denen Hetze und Populismus täglich mehr Fans gewinnen. Wofür applaudieren wir? Und reicht es, die Hände in den Schoß zu legen, um Ablehnung auszudrücken?
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