Endlich stehen sie auf der Bühne und zählen auf, was sie alles besitzen: diese ErbInnen, von denen im Laufe dieses Abends so oft die Rede war, in Chören oder Liedern. Menschen, die gerade eben noch im Publikum saßen, sprechen nun vorne offen aus, was sie ihr Eigentum nennen: vom üppigen Haufen Geld auf dem Konto bis hin zu geerbten Immobilien. Kurz stecken sie die Köpfe zusammen, um noch zu errechnen, was das ausmacht. Und es sind insgesamt knapp sechs Millionen Euro. Das wäre gar nicht so wild, wenn zuvor nicht so oft die Rede gewesen wäre vom Mietwahnsinn und Wohnungsnot, von prekären Jobs und ungerechter Entlohnung.
Im Rahmen des Impulse Theaterfestivals macht She She Pop beim „Oratorium“ die Grenzen sichtbar, die durch unsere Gesellschaft laufen. Und diese verlaufen, wie schnell ersichtlich wird, vor allem entlang der Frage, wer erbt, wer EigentümerIn ist. Bereits zu Beginn lässt das Kollektiv das Publikum via Teleprompter projizierte Textzeilen aufsagen, erst als kollektiver Chor, dann in Einzelgruppen.
Nach dem Chor der Wohlhabenden sind etwa alle Männer oder Mütter mit unregelmäßigen Einkommen dran. Statt die soziale Frage nur auf der Bühne zu verhandeln, nimmt das Publikum an dieser Zurschaustellung dieser gesellschaftlichen Grenzen teil: Einübungen, wie sie aus Brechtschen Lehrstücken der 1920er und 30er Jahr bekannt sind.
Die „Oratorium“-Premiere feierte das Berliner und Hamburger Performance-Kollektiv bereits im Februar diesen Jahres im Berliner Hebbel am Ufer, wo die PerformerInnen etwa neben dem Forum Freies Theater in Düsseldorf regelmäßig arbeiten. Gerechtigkeitsfragen, genauso wie die Überführungen von privaten in politische Angelegenheiten hat das siebenköpfige Ensemble zuletzt etwa in einer eigensinnigen Adaption von Shakespeares „König Lear“ auf die Bühne gebracht. Darin ging es um Generationengerechtigkeit, und die Theatermacher schickten dafür ihre eigenen Väter auf die Bühne.
Im Mülheimer Ringlokschuppen müssen die ZuschauerInnen im „Oratorium“ mitmachen, während die Ensemblemitglieder fleißig Fahnen schwenken. Oder in den „Katechismus vom Eigentum“ einstimmen. Ein fast nostalgischer Anklang an die Ästhetik von Bertolt Brecht und Komponist Hans Eisler, einerseits als postdramatische Parodie auf die Lehrstücke. Andererseits, um die Missstände in Parabeln und Chören anzustimmen, vor allem vom Publikum. Einübung hätte Brecht das genannt.
Konkrete, politische Handlungsanweisungen gibt das Ensemble jedoch nicht an die Hand. Das schlechte Gewissen (der ErbInnen) wird genährt, während die AkteurInnen nacheinander aus ihrer Prozesion heraustreten, um den menschenunwürdigen Hartz-IV-Regelsatz oder eine unzureichende Rente anzuklagen. Das ist Theater als klassische moralische Anstalt, keine Hetzte, keine Zurschaustellung von Wohlhabenden und EigentümerInnen. So summen zum Ausklang alle gemeinsam im Publikum. Und wer summt, fühlt sich solidarisch, das legen zumindest die projizierten Textzeilen nahe. She She Pop eröffnen mit ihrem Oratorium ein Forum, eine kleine Öffentlichkeit, in der brennende soziale Themen spielerisch verhandelt werden. Das ist gut so. Vor allem in Zeiten, in denen eine Große Koalition die Öffentlichkeit für Theater nutzt.
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