Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Schuld und Sühne. Vera Brühne. Wer weiß schon was in den Gehirnen der Männer vorgeht, die sich anmaßen, Frauen zu töten, scheinbar weil ihr Ego dies befiehlt. Der serielle Totschlag, auch Femizid genannt, erhöht momentan weltweit seine perfide Permanenz, in unserer ach so patriarchalen Gesellschaft stirbt fast jeden dritten Tag eine Frau, im Iran möglicherweise täglich. Ist es also nur das viehische Selbst (wie bei Woyzeck am Theater Dortmund in einem Karussell exerziert), das diese Vorgänge generiert, oder werden diese Entschuldungsgründe etwa nur vorgeschoben, um die Ungeheuerlichkeit inmitten der so genannten Normalität zu vertuschen?
Pia Richter inszeniert Georg Büchners Fragment „Woyzeck“ am Theater Oberhausen in diese Richtung. Das Drama um Marie, uneheliche Mutter und Soldatenbraut, seit Pfingsten immerhin zwei Jahre liiert mit dem armen Teufel, findet quasi in der oberirdischen Kanalisation statt, aus der es für die junge Frau (Simin Soraya) keinen Ausweg gibt. Die Wände sind steil, der Sand ist rutschig, für das Baby reicht das trockene Abflussrohr – was für eine schlichte, aber perfide Bühnenbildarchitektur von Julia Nussbaumer – und ich hatte beim Einlass noch zwei Eisberge vor dem Vorhang gesehen. Diese Öde wird gerahmt durch eine unterschwellige Soundspur und Schießscharten in der Höhe, schließlich ist Woyzeck (Daniel Rothaug) einfacher Soldat und Wehrmann, und durch diese Löcher tauchen die Protagonisten des bösen Reigens auf, immer unter der Beobachtung von Marie. „Every breath you take“ – der Einspieler von The Police macht die Zielrichtung klar: Heute Abend geht es um Besitzstände an Frauen, ob pathologisch oder nicht, es gibt keine Rechtfertigung, weder religiös noch monetär, Geschlechterrollen haben auch nichts Evolutionäres. In Richters Inszenierung sind auch Doktor und Andres weiblich besetzt (Regina Leenders und Franziska Roth), was die Drama-Konstellation aber nicht sonderlich beeinträchtigt oder befördert. Staub, Sand, Dreck. Verberge das Geschlecht. Woyzeck muss wieder diese Erbsen in sich hinein stopfen, doch die Opferrolle scheint an diesem Abend nicht so ganz zu gelingen, Rothaugs Woyzeck ist mehr so eine Schlägertype im schizophrenen Schafspelz, erst scheint das unbeholfen, aber es macht die Wucht des mörderischen Endes umso wirkungsvoller – Johann Christian August Clarus‘ Gutachten über den Geisteszustand der historischen Figur hätte es nicht besser sagen können. Schuld und Sühne, den echten Woyzeck hat man 1824 in Leipzig aufgehängt, auch keine Lösung.
Denn die Ursachen für die Tragödie sind vielschichtig und die Menschen um ihn herum haben ihren Anteil. Pia Richter setzt auf stark auf stille Momente in wechselndem Licht. Der Ärztin ist ihr Versuchskaninchen egal, der Hauptmann wird übergriffig gegen Woyzeck, der Tambourmajor verhöhnt ihn und Marie kann nicht mehr. Dennoch wird wieder mehr geschrien, wohl um die Eindringlichkeit zu befördern, aber das braucht es gar nicht. Das Leben und das Stück eskalieren in der Kanalisation. Marie wird abgeschlachtet, lila leuchten die Schießscharten, „sie hat es um mich verdient“ – es wird wirklich still. Doch Marie steht wieder auf und stellt die Verhältnisse wieder richtig. Sie hat das letzte Wort. Basta. Vielleicht war das mal nötig.
Woyzeck | 16., 17.2. | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Wüste des Vergessens
„Utopia“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/24
„Es ist ein Weg, Menschen ans Theater zu binden“
Regisseurin Anne Verena Freybott über „Der Revisor kommt nach O.“ am Theater Oberhausen – Premiere 06/24
„Zero Waste“ am Theater
Das Theater Oberhausen nimmt teil am Projekt Greenstage – Theater in NRW 06/24
Von der Straße ins Theater
„Multiversum“ am Theater Oberhausen – Prolog 04/24
Mackie im Rap-Gewand
„MC Messer“ am Theater Oberhausen – Tanz an der Ruhr 04/24
Vom Elvis zum Cowgirl
„The Legend of Georgia McBride“ am Theater Oberhausen – Prolog 02/24
„Die Geschichte wurde lange totgeschwiegen“
Ebru Tartıcı Borchers inszeniert „Serenade für Nadja“ am Theater Oberhausen – Premiere 01/24
Multiple Zukünfte, sinnlos zerstört
„Die Brücke von Mostar“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/23
Antworten, die verschwiegen werden
„And now Hanau“ in einem Oberhausener Ratssaal – Prolog 09/23
Folgerichtiger Schritt
Urban Arts am Theater Oberhausen – Theater in NRW 08/23
Apokalyptische Symbole
„Der lange Schlaf“ in Oberhausen – Theater Ruhr 07/23
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24
Das gab es noch nie
Urbanatix im Dezember wieder in Essen – Bühne 10/24
Bockig und vergnügt
„Das Neinhorn“ in Bochum
Die Zwänge der Familie
„Antigone“ in Duisburg – Prolog 09/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Jenseits von Stereotypen
„We Love 2 Raqs“ in Dortmund – Tanz an der Ruhr 09/24
„Das Publikum braucht keine Wanderschuhe“
Intendant Ulrich Greb inszeniert „Ein Sommernachtstraum“ am Schlosstheater Moers – Premiere 09/24
Künstlerisches (Ver-)Lernen
Das Favoriten Festival 2024 in Dortmund – Prolog 08/24
Gegenwart einer Gegenkultur
„Pump Into The Future Ball“ in der Jahrhunderthalle Bochum – Tanz an der Ruhr 08/24