Vor dreieinhalb Jahren erschoss der 43-jährige Tobias Rathjen in Hanau neun Personen mit Migrationshintergrund sowie seine Mutter, bevor er sich selbst erschoss. Die rassistische Tat hinterließ, wie so oft in Deutschland, zahlreiche Fragen, die bis heute nicht geklärt sind – und ein merkwürdiges Gefühl beim immer wohlfeil benutzten Begriff Rechtsstaat. Der Theaterautor, Regisseur, Schauspieler und Arzt Tuğsal Moğul setzt sich immer wieder mit rassistisch motivierter Gewalt in Deutschland auseinander. In seinem neuesten Rechercheprojekt theatral rekonstruiert er die rechtsextremen Morde und beleuchtet dabei ein Behördenversagen, bei dem selbst die unterstellte Fahrlässigkeit unglaubhaft wirkt. Seine Premiere hatte das Stück „And now Hanau“ während der diesjährigen Ruhrfestspiele im Großen Ratssaal des Rathauses Recklinghausen.
Der Spielort ist Programm: Nicht in Theatern, sondern in Rathäusern und Gerichten wird dieses Stück des deutsch-immanenten Rassismus aufgeführt. Mehrere Theater (Theater Münster und Oberhausen sowie das Maxim Gorki Theater Berlin) kooperieren. Im Oberhausener Ratssaal findet dazu ein Podiumsgespräch mit Vertreter:innen der Initiative 19. Februar Hanau, mit Opferangehörigen und Expert:innen statt, was auch die Sichtbarkeit dieser Ungereimtheiten am Leben erhalten soll.
Vier Schauspieler:innen aus Münster und Oberhausen (Agnes Lampkin, Regina Leenders, Tim Weckenbrock und Alaaeldin Dyab) verhandeln also im städtischen Lokalpolitik-Tempel die Ungeheuerlichkeiten in der hessischen Großstadt. Ein weißer Tisch, ein paar Klapptafeln und ein rollbarer Screen reichen für die Lehrstunde über Demokratiefeindlichkeit aus. Die Dialoge sagen mehr als reine Nachricht, sie legen eine Struktur im Denken der Gesellschaft frei und natürlich zeigen sie auch die Masse an Fehlern, die vor, während und nach dem Anschlag von Polizei, Staatsanwaltschaft, Politik und den Medien begangen wurden. Opfer und Angehörige fragen sich, wieso beispielsweise der polizeibekannte rechtsextreme Attentäter nicht besser überwacht wurde und wieso der Notruf 110 ausgerechnet in der Tatnacht nicht funktionierte. Nicht nur Tuğsal Moğul und die Angehörigen fragen nach Konsequenzen und fordern immer noch eine lückenlose Aufklärung.
Das Theaterstück folgt dem minutiösen Ablauf der sinnlosen Tat des wohl unter paranoiden Wahnvorstellungen leidenden Mörders. Manches haben die Nachrichten damals recherchiert, vieles wurde später erst sichtbar, einiges ist auch für die aufgeklärten Kulturintessent:innen neu, selbst wenn die vier Akteur:innen zu Beginn des Abends behaupten, dass nichts ungehört oder ungesehen gewesen sein soll. Und doch ist die Kausalität zwischen der Zwangseinweisung wegen wahnhafter Taten in eine psychiatrische Klinik und dem dennoch nicht folgenden Entzug der Waffenbesitz-Karte schwer zu begreifen und nicht immer medial ausreichend transportiert worden. Im Grunde genommen scheint sich an der Systematik einer strukturellen Gleichgültigkeit rechter Gewalt durch die Ordnungshüter seit den NSU-Morden nichts geändert zu haben.
And now Hanau | 21. (P), 24., 29.9., 31.10. | Ratssaal Rathaus Oberhausen (Außenspielstätte Theater Oberhausen) | 0208 857 81 84
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