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Im Zentrum der Vokalkünstler Phil Minton; um ihn herum die Musiker
Foto: Wonge Bergmann / Ruhrtriennale 2016

Sturz und Flug

23. September 2016

Wouter Van Looys Musiktheater-Kreation „Earth Diver“ bei der Ruhrtriennale – Bühne 09/16

Der Hang zum Grundsätzlichen, zu den ganz großen Themen und Fragen, lässt sich nicht übersehen. Er steckte auch schon in den beiden großen Produktionen der diesjährigen Ruhrtriennale, die deren Leiter Johan Simons selbst inszeniert hat. „Alceste“ und „Die Fremden“ waren existentialistische Befragungen nach dem Verhältnis zwischen den Menschen und ihren Göttern, die Björn Bicker in seinem Projekt „Urban Prayers Ruhr“ noch einmal aufgegriffen und ganz anders, alltäglicher und vielleicht auch etwas pragmatischer variiert hat. Aber immer ging es um die Frage: Glauben wir nun oder verzweifeln wir an den ausbleibenden Antworten?

Für den Barockkomponisten Heinrich Schütz, der den Dreißigjährigen Krieg miterlebt hat und sehen musste, wie Europa zu einem Totenhaus wurde, stellt sich diese Frage so nicht. Für ihn stand die Antwort so fest, dass er die Frage gleich beiseite wischen konnte: „Herr, wenn ich nur dich habe, / so frage ich nichts nach Himmel und Erde.“ Mit diesem vorbehaltlosen Glaubensbekenntnis aus Schütz’ „Musikalischen Exequien“ ringt Wouter Van Looys „Earth Diver“. Kann der Glauben an Gott uns heute noch eine solche Zuflucht und Zuversicht bieten? Also konfrontiert er sechs der Schützschen Chorkompositionen, die schließlich in den Zeilen „Sie sind in der Hand des Herren / und keine Qual rühret sie“ gipfeln, mit einer für dieses Projekt entstandenen Auftragskomposition von Nikolaus Brass, Soundscapes von David Van Bouwel, einem düster-poetischen Text von Paul Verrept und Filmbildern von Wim Catrysse.

Wie in „Die Fremden“ und „Medea.Matrix“, Susanne Kennedys reichlich kunstgewerbliches Installationstableau vom Werden und Vergehen des Lebens, prallen auch in Van Looys Arbeit unterschiedlichste Kunstformen aufeinander. Mal scheinen sie dabei kaum zusammenzukommen, mal ergänzen sie sich auf geradezu wundersame Weise. Doch anders als in Kennedys Konstruktkunst bilden die verschiedenen Schichten tatsächlich ein monolithisches Ganzes, das größer ist als die Summe seiner Teile. Einen entscheidenden Anteil daran trägt sicherlich auch der Raum, das Salzlager der Kokerei Zollverein, in dem an diesem Abend die Vergangenheit des Ruhrgebiets, der Bergbau und mit ihm seine durchaus auch mythische Dimension, noch einmal lebendig werden. Schon in ihm offenbaren sich die beiden zentralen Gegensätze, um die Van Looys Kreation kreist.

Auf der einen Seite manifestiert sich in den alten Backsteinmauern des Salzlagers auf eine ganz konkrete Weise eine starre, den Menschen einengende Wirklichkeit. Auf der anderen ermöglichen seine räumlichen und mehr noch seine klanglichen Dimensionen den Künstlern, eben diese Wirklichkeit zu überwinden. Ins Zentrum des Raums haben Peter Quasters, Wim Catrysse und Wouter Van Looy ein Metallgerüst gestellt, an dem vier Videoleinwände wie Fahnen angebracht sind und auf die vier Himmelsrichtungen verweisen. Die Zuschauerreihen bilden einen großen Kreis, der von vier von dem Turm ausgehenden Wegen durchschnitten wird. So können sich die Solisten des ChorWerk Ruhr unter der Leitung von Florian Helgath frei bewegen. Mal kommen ihre Stimmen aus dem Hintergrund und scheinen so den ganzen Raum zu umschließen. Mal versammeln sich die Sängerinnen und Sänger in kleineren oder größeren Gruppen um das Zentrum herum. Dann weht ihr Gesang in alle Richtungen.

Ein zweiter Raum aus Klang entsteht, der sich vom Irdischen ins Himmlische öffnet. Während Nikolaus Brass’ Komposition, die beharrlich zwischen düsterer Vokalise und dräuendem Geräusch changiert, und David Van Bouwels Soundscapes fest in der materiellen Welt, der Welt der in der Bergarbeitersiedlung Barentsburg entstandenen Filmsequenzen von Wim Catrysse verankert scheinen, entfliehen Heinrich Schütz’ Chorwerke allem Irdischen. Sie beschwören nicht nur das Heil im Glauben. In der sublimen, niemals pathetisch oder gar forcierten Interpretation der 18 ChorWerk-Solisten, lassen einen diese Gesänge langsam der Realität entschweben, die einen dann aber sofort wieder einfängt und auf den Boden der Tatsachen zurückholt.

Die Geschichte vom „Earth Diver“, der aus dem All in die Fluten des damals noch ganz von Meeren bedeckten Planeten Erde gestürzt ist und dann Wasser von Land geschieden hat, ist einer der vielen Schöpfungsmythen der Menschheit. Der Sturz vom Himmel als göttliches Geschenk, dem wir alle das Leben verdanken. Dem steht in Wouter Van Looys „Earth Diver“ das Konzept Ikarus entgegen. Der Mensch, der seine Fähigkeit nutzt, um der Erde zu entfliehen, und am Ende doch nur wieder zu ihr zurückkehren kann. Auf die Höhenflüge des menschlichen Geistes und seines schier unendlichen Erfindungsreichtums folgt quasi zwangsläufig der Absturz, wie in Barentsburg, dieser russischen Enklave auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen.

Dort wird zwar anders als im Ruhrgebiet immer noch Kohle gefördert, unter schwierigsten und gefährlichsten Bedingungen. Aber die Arbeit im Bergwerk ist längst Selbstzweck für ein paar Männer geworden, die aus dieser Einöde einfach nicht mehr wegkommen. Alles, was sie fördern, wird für das Kraftwerk in Barentsburg benötigt, ohne das ein Leben dort gar nicht möglich wäre. Catrysses nüchterne, von einer seltsamen Schönheit erfüllte Bilder illustrieren den brutalen Sturz des industriellen Zeitalters. Die, die sich einst in die Erde eingegraben haben, um den Menschen ‚fliegen’ zu lassen, sind nun Gefangene ihrer sinnlos gewordenen Arbeit.

Die kleinen Filmsequenzen sind Erzählungen der Verleugnung. Die Umstände haben sich geändert, aber der Mensch kann sich allem Anschein nach nicht verändern. Von dieser Erstarrung erzählt auch Paul Verrepts schwarz strahlender Text, dessen einzelne Kapitel die Phasen der Trauerbewältigung nach Elisabeth Kübler-Ross spiegeln. Der Vokalkünstler Phil Minton, der erhöht im Inneren des Bühnenturms sitzt, verleiht Verrepts verstörenden Zeilen einen ungeheuren Sog. Sein Flüstern ist ebenso eindringlich wie die Schreie, die er gelegentlich gen Himmel sendet. Die Sehnsucht nach einem erlösenden Glauben, wie ihn Heinrich Schütz beschworen hat, wird in Mintons Sprech- und Verrepts Sprachkunst zu einer ewigen Wunde. Immer wieder setzt Ikarus an, den Himmel zu erobern, und immer wieder fällt er zurück ins Meer. Und so bleibt die Frage nach Gott letzten Endes auch in „Earth Diver“ offen. Aber vielleicht sollte man sich Ikarus, der nicht aufhören kann, zu fliegen und zu stürzen, ähnlich wie auch Camus’ Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.

„Earth Diver“ | R: Wouter Van Looy | Musikalische Leitung: Florian Helgath | Fr. 23.9. 20 Uhr; Sa. 24.9. 19 Uhr | Salzlager Kokerei Zollverein

Sascha Westphal

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