Berlinde De Bruyckere ist die ruhigste, besonnenste Bildhauerin, die man sich vorstellen kann. Ihre Skulpturen, die figürlich sind und in der Mehrzahl geschundene Pferde, menschliche Torsi und Fragmente zeigen, sind sorgfältig ausformuliert, im Detail abgegossen, in den Sehnen und Gelenken bedacht als Dokumente kreatürlichen Lebens. Sie schließen an die Kunstgeschichte an, an die gotische Skulptur eines Claus Sluter oder an Auguste Rodin, und auch bei ihr geht es um Transzendenz, die physische Existenz und die psychische Verfasstheit, selbst in der Abwesenheit, verdeckt unter Hüllen. Ihr zentrales formales Anliegen sei die Spannung von Eros und Thanatos, von körperlicher Sinnlichkeit und spiritueller Aufladung, sagt Berlinde De Bruyckere. Das gilt auch für ihre Engelsfiguren, deren Häupter, Schultern und Oberkörper unter Laken, die den Körper hinabfallen, verborgen sind. Die Flügel sind nurmehr Wucherungen an den Schultern; offen ist, ob sie weiblich oder männlich sind.
In der „City of Refuge IV“ in der Turbinenhalle Bochum schweben drei dieser überlebensgroßen Engel auf den Fußballen zwischen und über den Maschinen, hoch aufgerichtet, wenngleich zwei von ihnen gebeugt sind. Die beiden Turbinen, die mit ihrer grünspanigen, organisch verlaufenden Oberfläche in der Industriehalle wie Monster liegen, Macht und Mächtigkeit ausstrahlen und zur Energieerzeugung dienten, sind mit ihren Gerätschaften, den Leitern und Zählwerken von Metallgittern umfangen und wirken zusammengedrängt. Vielleicht sind sie mitsamt den Spinden im Eingangsbereich, die Belege für die einstige körperliche Arbeit sind, hier noch arrangiert. In der Düsternis mit dem flackernden Streulicht gegenüber der Fensterfront, die flirrend dunkel verhängt ist, und den leisen Geräuschen industrieller Tätigkeit ist das Industriedenkmal kein Ort des Wohlfühlens, aber mit den Engeln vielleicht ein Platz des Übergangs und des Zeitweiligen außerhalb jeder Zeit. Die Zäune fügen sich zu Käfigen zusammen, an denen die Besucher entlanglaufen, die trennen, aber auch schützen können, Gefangenschaft und Austausch bedeuten.
Der Titel „City of Refuge“ (übers.: „Stadt der Zuflucht“) stammt aus einem Song von Nick Cave, der auf einen Song des Wiseman Sextettes zurückgeht, der sich seinerseits auf die Bibel bezieht. Berlinde De Bruyckere stellt die Beziehung zur Frühzeit der Industrialisierung und zu den Anfängen des Ruhrgebiets her. „Alle diese Geschichten erzählen von denselben disruptiven Umständen: Man ist gezwungen, die Heimat zu verlassen, woanders zu arbeiten und Geld zu verdienen, weit weg von der Familie und allem Vertrauten“, sagt die belgische Künstlerin und verweist noch auf die heutigen Flüchtlingsbewegungen und die Fragilität des Lebens. Man kann sich inmitten ihrer vierten Installation mit den Engeln fürchten, aber auch Hoffnung schöpfen. Innerhalb der Ruhrtriennale finden zudem Konzerte statt. Passend ist aber erst recht, dass während der Laufzeit der Installation ihre Landsleute und Choreografen Anne Teresa De Keersmaeker und Jan Martens in der benachbarten Jahrhunderthalle inszenieren: den Körper und seine Präsenz weiter in den Vordergrund rücken.
Berlinde De Bruyckere – City of Refuge IV | bis 15.9. | Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle Bochum | 0234 97 48 33 00
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