Der Spielort auf der Zeche Auguste Victoria in Marl ist ein Coup: Bedrohlich erhebt sich die riesige Kohlenmischanlage hinter der Spielfläche. Verschwindend klein nehmen sich davor die Darsteller und das offen im Raum platzierte Kammerorchester aus. Jeden Moment könnte die Maschinenwand vorfahren und alle unter sich zermalmen – die Menschen sind ihr schutzlos ausgeliefert, es gibt kein Entrinnen von diesem Ort. Erst in der Stückmitte zieht sich die gigantische Maschine langsam nach hinten zurück und gibt die immense Tiefe der Halle frei, doch eine Befreiung bedeutet dies nicht: Die fünf Darsteller irren verloren durch die Weite der Kohlenstaubwüste und finden weder emotionale Geborgenheit, räumliche Orientierung noch geistigen Halt.
In diesem beeindruckenden Raum spielt die Dramatisierung von Kamel Daouds Roman „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“, inszeniert von Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons. Kamel Daoud bezieht sich auf Camus „Der Fremde“ aus dem Jahr 1942, ein literarischer Meilenstein des Existentialismus. Der Franzose Meursault erschießt einen Araber, der Zufall der Ereignisse macht ihn zum Mörder. Seiner Tat und dem Todesurteil steht er gleichgültig gegenüber. Aus großer Distanz schildert er das Geschehene, sein Opfer nennt er nur „den Araber“. Empathie und Liebe für andere, selbst für die eigene Mutter, sind ihm fremd.
Dem Toten einen Namen geben
Daoud schreibt die Geschichte aus algerischer Perspektive fort und lässt Haroun, den Bruder des Toten, von den fatalen Auswirkungen des Verlustes auf sein eigenes Leben und das der Mutter erzählen. Er kreist um seine Erinnerungen und Gedanken, erzählt von seinem kaltblütigen Mord an einem Franzosen im Algerienaufstand, seiner Mutter, die ihn zur Kopie des getöteten Bruders machen will, seinen gescheiterten Beziehungen zu Frauen, seinen Hass auf den Islam. Die Kränkung, dass der Erzähler in Camus Roman den Bruder nicht einmal beim Namen nennt, zieht sich in Endlosschleifen durch den Text, der 2013 in Frankreich Furore machte und seinem Autor die Fatwa einbrachte.
Die fünf Darsteller teilen sich den Text Harouns und stellen verschiedene Facetten der Figur dar. Sie hüpfen, springen, laufen durch den Raum, sprechen den Text in unterschiedlichsten emotionalen Haltungen, kindlich überdreht, dogmatisch belehrend, verzweifelt. Zu Beginn tragen sie Blaumänner, dann legen sie die Rolle des algerischen Hafenarbeiters ab, winden sich aus der uniformen Underdog-Kleidung und stehen in fast gleich aussehender Alltagskleidung da – von einer Rolle fallen sie in die nächste, Identifikation oder gar Identität gibt es nicht. Die Darsteller Pierre Bokma, Sandra Hüller und Benny Claessens bewältigen die schnell wechselnden kurzen Szenen virtuos mit viel Körpereinsatz, Elsie de Brauw und Risto Kübar fallen in ihrer Präsenz dagegen ab, letzterer kann mit seiner wie aufgesagt wirkenden Sprache darstellerisch nicht überzeugen.
Das hervorragende Kammerorchester Asko Schönberg unter der Leitung von Reinbert de Leeuw liefert zum Geschehen den atmosphärischen Soundtrack mit Stücken von Kagel und Ligeti. Katrin Baerts glänzt in der anspruchsvollen Sopranpartie von Claude Viviers Bouchara, die Musik, die zu der Rückfahrt der riesigen Kohlemischanlage erklingt und für den eindrucksvollsten Teil des ganzen Abends sorgt.
Inszenierung wird politischem Anspruch nicht gerecht
Trotz der Virtuosität des Theaterabends und des immensen Aufwands bleibt der Gesamteindruck hinter den Erwartungen zurück: Die Personenregie Johan Simons baut auf die Improvisation der Schauspieler und lässt zu viel im Ungefähren. Die Szenen, in denen ein Schauspieler das nachspielt, was ein anderer erzählt, wirken in der Eins-zu-eins-Umsetzung fast unbeholfen.
Das historische Filmmaterial von Aernout Mik aus der Zeit des Algerienaufstandes stellt Beziehungen und Assoziationen zum Bühnengeschehen her, aber eine ästhetische Einheit stellt sich für den Betrachter nicht ein, da der Blick von der Projektionstafel zur Szene hoch und runter springen muss und man den Kontakt zu den Darstellern verliert. Die am Spielort aufgenommenen Filmsequenzen, in denen Statisten Flüchtlinge und Polizisten in einem deutschen Aufnahmelager spielen, sind einem falschen Sozialpathos geschuldet: Der Versuch, sich durch ein Rollenspiel in die Situation der Betroffenen hinein zu versetzen, wirkt dilettantisch und anmaßend. So wird man den Fremden und ihren Erfahrungen in der Fremde nicht gerecht.
„Die Fremden“ | R: Johan Simons | Do 8.9., Fr 9.9. Sa 10.9. jeweils 20 Uhr | Zeche Auguste Victoria, Marl | www.ruhrtriennale.de |
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