Strukturen ändern sich. Die Junge Triennale wird weiter ins Festival der Künste eingebettet, die Residenz Teens in the House betrachtet in diesem Jahr Aspekte von Geschlechterrollen. Anne Britting, die Projektleiterin und Dramaturgin der Jungen Triennale über Stücke und das Mitmachen.
trailer: Frau Britting, was erwarten wir vom jungen Publikum bei der Jungen Triennale?
Anne Britting: Wir erwarten von ihnen, dass sie Lust haben, eine Erfahrung zu machen, dass die Erwachsenen ihnen überhaupt ermöglichen zu kommen. Wir erwarten von den Kindern und Jugendlichen Reaktionen, auf die wir gespannt sind. Es wird auch nicht so sein, dass man bei uns bei allen Produktionen als Publikum rumsitzt. Außerdem haben wir die Trennung zwischen Junger Triennale und dem restlichen Festivalprogramm in diesem Jahr hinsichtlich des künstlerischen Programms aufgelöst. Es gibt nun keine Produktionen mehr, die die Junge Triennale veranstaltet. Im Gesamtprogramm gibt es einfach Produktionen, die für junges Publikum besonders geeignet sind. Wir schreiben zu allen Produktionen, die wir besonders für Kinder und Jugendliche empfehlen, Altersangaben dazu. Sei es bei „promise me“ für Erwachsene und Kinder, sei es bei „Follow me“ für Kinder und Familien, sei es bei „Hillbrowfication“ ab 12 Jahren. Wir wollten nicht länger diese scharfe Aufteilung, weil wir gesagt haben, es gibt Produktionen, da stimmt das nicht, die sind nicht nur für Kinder, nur für Jugendliche. Daneben steht die Junge Triennale für die Vermittlungsarbeit, darunter Projekte, bei denen Kinder und Jugendliche selbst Kunst machen, sowie Workshopangebote an Schulen.
Die Bewegung in der Welt muss – ich zitiere mal aus der Ankündigung – „schonungslos radikal sein und dabei Naturgesetze und körperliche Grenzen auf den Kopf stellen“?
Ja, ich glaube, das muss sie für Kinder und Jugendliche nach einer Pandemie, und Jahre sind ja für Kinder viel mehr Zeit als für uns. Die Entstehung von „promise me“ basiert auf diesem Wiedersehen nach einem langen Lockdown. Man musste sich an Regeln halten, die nicht verhandelbar waren, weil es um Leben und Tod ging. Aber das heißt nicht, dass nichts auf der Welt verhandelbar ist. Und das heißt nicht, dass wir jetzt ein Leben führen, das nur auf Sicherheit ausgelegt ist. Gerade Kinder und Jugendliche brauchen jetzt den Raum, um zu proben, sich zu testen und auszuprobieren, und unser Vertrauen. Die haben uns ja auch wahnsinnig vertraut: Das sind die Regeln, die die Erwachsenen erst einmal machten und an die halten wir uns. Und wenn ihr sagt, es ist wichtiger, dass wir zuhause bleiben als dass wir in die Schule gehen, dann habt ihr das für uns bestimmt und wir müssen euch vertrauen, dass das nicht dazu führt, dass ich mein Leben lang einen Rückstand habe oder einen Nachteil.
Und was ist mit von Balkon zu Balkon springen?
Ja, das ist das andere Stück. Parkour ist eine Mischung aus Kunstform und sportlicher Fähigkeit, wie wir es im Tanz auch oft haben. In diesem Fall ist es auch ein Anregen zum Überdenken wie wir uns in dieser Welt bewegen. Wir folgen sehr stark vorgegebenen Routen, es gibt fast keine spitzen Winkel auf dem Gehweg. Es gibt lauter Dinge, die nehmen wir einfach so hin und die übertragen wir auch auf die Kinder. „Follow me“ gibt einem die Chance wirklich Spaß daran zu haben, auszuprobieren, was eigentlich passiert, wenn man rückwärts die Treppe hochgeht oder wenn ich an einem Laternenpfahl hochklettere, um mich zu orientieren. Wie selten machen wir das und warum eigentlich?
Am meisten interessiert mich die Residenz Teens in the House II, weil das nicht nur temporär ist, und über einen längeren Zeitraum läuft. Was wird denn da stattfinden?
Die Residenz selbst findet während des Festivals statt. Wir haben letztes Jahr diese Häuser gebaut. Jede:r von den beteiligten Jugendlichen hat sich so eins gebaut. Wir haben sozusagen während der Pandemie „stay@home@festival“ gelebt. Die Häuser sind bemalt und werden von den Jugendlichen als eine Art Litfaßsäule oder Wand mit Statements benutzt. Dieses Jahr ziehen wir eine Woche lang in die Häuser. Das beginnt schon mit Vorlauf, weil Teens aus dem letzten Jahr immer noch an Bord sind. Mit der Gruppe haben wir uns letztes Jahr thematisch mit Gewalt gegen Frauen beschäftigt, aber auch, wie Jugendliche eigentlich mitbestimmen dürfen oder eben nicht. Davon ausgehend hat sich eine Untergruppe gebildet: Gays in the house. Davon ausgehend und von den diesjährigen Festival-Produktionen, wo es viel um Transformation und um queere, feministische Perspektiven geht, ist die Idee entstanden mit Jugendlichen zu überlegen, wie sie eigentlich das Zusammenleben hinsichtlich dieses Aspekts von Geschlechterrollen und Identitäten gestalten wollen. Die müssen unser gesellschaftliches Zusammenleben ja noch 70 Jahre lang ertragen, wir nicht. Auch vor dem Hintergrund, dass das Zusammenleben mit der Pandemie gecrasht ist und man jetzt eine Wiederbelebung hat. Aber soll es wieder so sein wie früher? Es war ja nicht alles gut. Jetzt ist der Moment, Zusammenleben neu zu strukturieren und Jugendliche zu fragen, wie hättet ihr es denn gerne.
Wie schwer lastet denn der Überfall auf die Ukraine? Ist das für die Jugendlichen ein Thema?
Für die Jugendlichen ist das natürlich ein Thema und auch anders als für Erwachsene. Genauso wie es 2015/2016 ein großes Thema war, dass viele Menschen fliehen mussten. Insofern ist das Teil der Alltagsrealität von Jugendlichen in unserer heutigen Mediengesellschaft, wo wir permanent Informationen aus der ganzen Welt empfangen. Und ich glaube, dass Jugendliche sehr viel emphatischere Menschen sind, weil sie sehr viel weniger abgestumpft sind von Nachrichten und vom Funktionieren in einer Gesellschaft. Inwieweit das in dem Residenzprojekt eine Rolle spielen wird, ist für mich nicht vorhersehbar. Die Hauptarbeit und der Hauptaustausch finden in dieser Residenz-Woche statt, wo die Teilnehmenden beim Festival statt in der Schule sind. Ich glaube, Jugendliche haben wahnsinnig viel Wissen und das wird unterschätzt, auch sind sie sehr viel weiter, was Begriffe angeht, was Beschreibungen angeht, was Ideen angeht.
Ruhrtriennale 2022 | 11.8.-18.9. | Bochum, Duisburg, Essen, Gladbeck | 0221 28 02 10
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