In Dreiergruppen werden wir in den Vorraum des Bühnenraums gebeten. Hier bekommt jede einen Stoffbeutel mit zwei Löchern für die Augen ausgehändigt. Die streifen wir über und betreten den Bühnenraum. Es gibt keine Stühle, der Raum ist durch drei schwarze Vorhänge unterteilt, die von der Decke hängen, so dass man von keiner Stelle den gesamten Raum überblicken kann. Auf diese Art kehrt keine Ruhe ein, denn niemand will etwas verpassen. Immer wieder kommt Bewegung in die Gruppe. Eine skurrile Situation, maskierte Menschen unter denen man schwierig die Tänzer ausmachen kann. Das hat etwas Verschworenes. Bei jedem etwas abweichenden Bewegungs- oder Verhaltensmuster wenden sich einem andere Zuschauer zu. Eine Tänzerin, Fa-Hsuan Chen, entledigt sich der Maske und bewegt sich sehr langsam durch das Publikum, endlich ein Blickpunkt, doch sie zieht die Maske wieder auf und reiht sich wieder ein. Nun beginnt der Rest des Ensembles Blickkontakt mit dem Publikum zu suchen, sie verdrehen Körperachsen, biegen sich nach hinten, legen den Kopf schräg und mischen sich dann wieder unter die Leute. Aus dem knisternden Sound, der die ganze Zeit in der Luft lag, kristallisiert sich ein Beat hervor. Plötzlich sitzen alle sechs Tänzer und Tänzerinnen unmaskiert auf dem Boden. Isolierte Bewegungen treiben die Körper durch den Raum. Ein Ellbogen knickt ein, die Achse des Oberkörpers verschiebt sich, der Kopf dreht sich. In einer Hälfte des Raumes treffen alle aufeinander. Sie richten sich auf und klappen wieder zusammen, als müssten alle Körperteile erst ihren richtigen Platz finden. Dann finden sie sich in Paaren oder Trios und beginnen gemeinsam durch den Raum zu wandern. Sie drehen sich umeinander, werden rasanter, ziehen einander mit und von anderen weg. Sie werden zu Knäueln und lösen sich wieder voneinander. Energie entsteht, es wirbelt. Die Musik wird heftiger, elektronische Sounds, die nach Arbeit klingen. Die Tänzer kommen sehr nah, weiter nach hinten ausweichen ist nicht möglich.
Die raumteilenden Vorhänge fallen, die freigesetzte Energie zirkuliert noch weiter. Die Bewegungen werden ruhiger. Pianomusik erklingt. Die Tänzer und Tänzerinnen bleiben stehen, es durchzuckt ihre Körper noch. Eine Hand, wie elektrisiert. Zum Teil stehen sie nah an Zuschauern, die vorangegangene Anstrengung ist noch spürbar. Da schwebt das Thema Vergangenheit im Raum, es ist melancholisch, dieses Erinnern und Nachspüren. Werner Nigg beginnt am ganzen Leib zu zucken, er schüttelt sich, beinahe wie um etwas los zu werden. Dann wird es dunkel.
Ein kurzweiliger Abend mit fulminantem Höhepunkt und einem schnellen Ende, an dem man dennoch nichts vermisst. Ich verlasse den Raum mit geschärften Sinnen und freue mich, dass Cocoondance ihre nächsten Produktionen immer auch im Ringlokschuppen zeigen wird. Was ein Zuwachs für das Ruhrgebiet.
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