Die Erfahrung, hat Walter Benjamin mal diagnostiziert, ist im Kurse gefallen. Was man von Mund zu Mund erzählt, ist selten noch der Stoff, aus dem Kunst gemacht wird – vor allem, wenn es um die tagtäglichen Meldungen und Bilder aus den Kriegs- und Krisenregionen geht, mit denen die Nachrichten uns abstumpfen. Als Medien, die über die Hölle berichten, sind sie inadäquat geworden.
Der Dramatiker Mohammad Al Attar hat dafür ein neues Medium gefunden: Das Theater. „Und jetzt bitte direkt in die Kamera“, lautet die Anweisung in seinem Stück „Could you please look into the camera?“. Ensemblemitglieder des Mülheimer Theaters an der Ruhr lesen ausgewählte Szenen aus diesem und den zwei weiteren Stücken „Youssef Was Here“ und „Antigone of Shatila“, die der Autor als lose „Trilogie einer syrischen Revolution“ versteht. Was die Protagonisten da in die Kamera sprechen, sind ihre Erfahrungen aus dem syrischen Bürgerkrieg, die Zeit im Kerker des Assad-Regimes. „Sich fügen heißt überleben“, steht an einer der Zellenwände geschrieben. Erst die notwendige Distanz, nachdem man überlebt hat, erlaubt, das Erfahrene weiterzuerzählen.
Dazu gehört die Erfahrung des Gefängnisalltags und die Frage nach Menschlichkeit inmitten dieser Institution der Unmenschlichkeit. Drei Mal am Tag dürfen die Gefangenen aufs Klo, im Bad haben sie morgens eine Minute Zeit. Da ist ein Wärter, von dem Al Attars Protagonist erzählt: eigentlich der einzige Angenehme – unter sozialem Druck prügelt auch er. „Die wirkliche Katastrophe ist der Ort an sich und die Geisteshaltung, die dem zugrunde liegt.“
Der syrische Dramaturg widmet sich hier den Oppositionellen und DissidentInnen seines Heimatlandes: „Was passiert da und warum passiert es da?“, fragt er im anschließendem Publikumsgespräch. „In Syrien wird geschwiegen, um überleben zu können. Für mich war es daher eine Frage der Erinnerung.“ Das Theater sei für ihn eine Art Archiv dieser Erinnerungen.
Darum geht es auch in seinem Theaterprojekt „Antigone of Shatila“, ein Stück, das er mit Flüchtlingsfrauen in Beirut aufgeführt hat. Ähnlich wie die antike Antigone von Aischylos können auch die Geflüchteten nicht ihre Angehörigen begraben. „Sobald du sie betrittst, beschleicht dich das Gefühl, dass man hier nicht mehr hinaus kommt“, notiert eine der Frauen in ihrem Tagebuch über das Leben im Flüchtlingslager. Vergangenheit und Zukunft scheinen abgeschnitten. Al Attar war damals selbst erst in den Libanon geflohen. „In Beirut hatte ich die Distanz, um von der Grenze auf Syrien zu schauen“, erzählt er.
Die Erinnerungen und die Grausamkeiten, die sich aktuell fortsetzen, hält er in seinen Stücken fest – genau das, was das Internet und Fernsehen nicht könnten. „Das Theater ist mein Medium. Es geht nicht um Nachrichten, sondern darum, Fragen zu stellen“, so der Autor. „Es ist auch das Glück des Geschichtenerzählers, das alle Syrer was zu erzählen haben.“ Theater ringt hier dem gegenwärtigen Ausnahmezustand eine Wette ab: Eindringlicher als alle nachrichtlichen Texte oder Bilder erzählen Al Attars Stücke von den menschlichen Erfahrungen.
Wer aus den Krisenregionen der Welt geflohen ist, wer in Idomeni, an den neuen, europäischen Außengrenzen ausharrt, der hat trotz aller traumatischen Erfahrungen etwas zu erzählen. Das ist der Stoff, aus dem Al Attars Bühnentexte gemacht sind. Distanz zu den aktuellen Epizentren braucht auch er als Künstler. Aber der Gehalt seiner Stücke sind diese Erfahrungen von der anderen Seite der Grenze.
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