Ausgerechnet der Tod ist es, der Peer Gynt das Leben rettet. Mit seinem Hals liegt der verarmte Bauernsohn bereits geschlagen auf einem Baumstumpf, während sein Rivale, ein Bräutigam, zum Axthieb ausholt. Es ist das glimpfliche Ende der Feierlichkeiten, zu denen sich eine Hochzeitsgesellschaft zusammengefunden hat – inklusive Begattung, Sauferei und Keilerei. Diese Szene aus Hendrik Ibsens dramatischem Gedicht kreiert der Choreograf Edward Clug zu einer eleganten Ballettrevue. Das gilt auch für die Pas de Deux, die Ibsens berühmter Protagonist hinlegt: erst mit einem Hirsch, der ihm wie ein Alter Ego durch seine Tagträume folgt; schließlich mit seiner Geliebten Solvejg, die er jedoch verlässt, um in die weite Welt aufzubrechen.
Diese Reise gestaltet Clug als mythisches wie märchenhaftes Ballettstück. Das liegt nicht nur an Edvard Griegs Peer Gynt-Suiten, die lange Zeit als zu nationalromantisch abgetan und daher nicht bei Inszenierungen aufgegriffen wurden. Bei Clug ertönt Griegs Komposition gleich zu Beginn aus einem Orchestergraben, der viele Neugierige aus dem Publikum noch vor Beginn der Aufführung nach vorne lockt, um einen Blick hinunter zu wagen.
Auch das mittlerweile eher aus Werbespots bekannte Grieg-Stück „Morgenstimmung“ erklingt nach der Pause dieses knapp zweieinhalbstündigen Abends. Gynt kauert währenddessen in einem Kinderschaukelautomat, der als Propellerflugzeug gestylt ist. Trotz der langen Reise, die Gynt unternimmt, schwingt immer eine Regression mit. So erhält er auf dem Totenbett seiner Mutter eine Tracht Prügel auf das nackte Gesäß, während das Bett auf einem Kreispodest gondelt. So viel Symbolismus darf sein: Gynt begibt sich zwar auf die Suche nach sich selbst, doch er nimmt die falschen Ausfahrten, er dreht sich im Kreis.
Diese Erkenntnis artikuliert er bekanntlich in Ibsens berühmter Schlussszene, in der sich Gynt mit einer Zwiebel vergleicht: voller Hüllen, aber ohne Kern. Und diese Zwiebel hinterlässt eine toxische Spur: Es sind nicht nur Solvejg und Ingrid, die Braut aus der Hochzeitsgesellschaft, die Gynt gekränkt zurücklässt. Später verärgert er mystische Wesen, erst die drei Sennerinnen, schließlich die „Grüne“, die Tochter des Trollkönigs – Figuren, für die Kostümbildner Leo Kulaš eine fantastische Garderobe zauberte, welche wiederum für choreografische Schauwerte sorgt: Gynt, der die moosgrünen XXL-Zöpfe der Sennerinnen wie ein Lasso wirbelt; Gynt, der einen Reigen mit den Trollen hinlegt – eine Szene, die zwischendurch Extra-Applaus erntet.
Hinzu kommt der Hirsch, den Arthur Henderson mit zwei Krücken gibt, die er akrobatisch als zwei weitere Tanzbeine zu schwingen weiß. Guillem Rojo i Gallegos Tod erscheint zwar, als hätte er sich aus Ingmar Bergmanns „Das siebente Siegel“ verlaufen, wenn er regelmäßig aus einem schwarzen Felsenhügel kriecht, der an die Landschaften von Tolkiens Mordor (Bühnenbild: Marko Japelj) erinnert . Zugleich versprüht diese Personifizierung stolze Mephisto-Vibes. Denn faustischen Beistand braucht dieser Gynt auch angesichts der toxischen Verwüstung, die er anrichtet. So ist Clugs Ballett-Adaption nicht bloß eine flotte Ibsen-Verramschung, die den Stoff mit märchenhafter Ästhetik ausstaffiert, sondern auch eine choreografische Beleuchtung von Gynts toxischem Machtstreben.
Peer Gynt | 1., 4., 19.3. | Theater Dortmund, Opernhaus | 0231 50 27 222
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