Ein bisschen hat es was von Platons Höhle, wenn man im Dortmunder U die Sixtinische Kapelle erreicht hat. Die Assoziation zu Michelangelos Schöpfungsmythos verblasst schnell in dem bunt flimmernden Wahn: Mitten im Raum steht ein Gerüst mit 34 Videoprojektoren, die an die Wände der Kuppel im sechsten Stock des monumentalen Kunsttempels am Rande der City beamen. Hier ist die Installation „Sistine Chapel“ (1993/2019) von Nam June Paik (1932–2006) aufgebaut, denn das Museum Ostwall zeigt die Ausstellung „Nam June Paik: I Expose the Music“, die einen besonderen musikalischen Live-Aspekt des koreanischen Fluxuskünstlers zeigt, der sich selbst als „the world‘s most famous bad pianist“ bezeichnete, und das nicht nur, weil seine Partituren immer schon jenseits der Kompositionen so genannter „Neuer Musik“, aber auch der in den späten 1960er Jahren aufkeimenden elektronischen Musik beispielweise eines Pierre Henry lagen, sondern weil sie neben visuellen Aspekte immer auch Resultate des vorgefunden Raums waren. Und in der Kuppel des U ist die „Sistine Chapel“ fast magisch eingebaut, „schöner als es 1993 im Deutschen Pavillon in Venedig möglich war“, sagt Kurator Rudolf Frieling vom San Francisco Museum of Modern Art.
Die Installation ist nicht nur der Höhepunkt der zurzeit wohl wichtigsten Ausstellung im Ruhrgebiet, es ist auch eine Art von Erbe Paiks, der in diesem Werk sein Oeuvre zusammenführt, zahlreiche Arbeiten und Weggefährten wie die Cellistin Charlotte Moorman zitiert und zwischen Tönen, Bild, Licht und Farbe selbst geopolitische Nord-Süd- und West-Ost-Anachronismen verarbeitet hat. Auf dem Weg in die Kapelle können die Besucher:innen den künstlerischen Werdegang des außergewöhnlichen Künstlers chronologisch verfolgen und als immersive Erfahrung so ungewöhnliche Solitäre wie das heute unberührbare Schallplattenschaschlik von 1963 (Sammlung Ostwall) nur sehen oder beim „Participation TV“ (1969/1980) mitmachen und die Muster auf einem Fernseher durch markiges Singen in ein Mikrophon (Karaoke?) beeinflussen. Paik war ein gigantischer Visionär, was die elektronische Entwicklung unserer Lebensbereiche zwischen Videotelefonie und Bildwirkung angeht, aber schauen Sie sich unbedingt an, was passiert, wenn der Meister in ein Stück Holz ritzte.
Nam June Paik: I Expose the Music | bis 27.8. | Museum Ostwall, Dortmunder U | 0231 502 60 87
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ich glaub‘, mein Sein pfeift
Vortrag über Mensch-Tier-Beziehung in Dortmund – Spezial 06/23
Was uns die Algen singen
Stolzer & Rütten im Dortmunder U – Ruhrkunst 05/23
Unsichtbar im Raum
Autorin Fatma Aydemir in Dortmund – Literatur 11/22
In Bildwelten tauchen
Fotosammlung Museum Ostwall trifft junge Fotobuch-Kunst – Ruhrkunst 08/22
Lebende Kunst in toten Museen
Kunst aus Ghana im Ostwall Museum im Dortmunder U – Kunstwandel 01/22
Grenzgänge
Zeitgenössische irische Kunst in Dortmund – Ruhrkunst 02/20
Hoch hinaus
Emerging Artists Festival in Dortmund – Kunst 10/19
Alternativ und bräunlich
„Der Alt-Right-Komplex“ im Dortmunder HMKV – Kunstwandel 05/19
Kleine Ereignisse
Tina Tonagel in Dortmund – Ruhrkunst 10/17
Eine Biennale für Dortmund
Emerging Artists auf der UZwei – Ruhrkunst 10/17
Die Musealisierung des Pop
Musik als Ausstellungssache – Popkultur in NRW 09/17
Forum für Talente und Experimente
„Junges Medienfestival – Feedback“ vom 29.6. bis 2.7. im Dortmunder U
In der Kunstküche
„Am Tisch“ und Medienkunst im Dortmunder U – Ruhrkunst 06/25
Women first!
Judy Chicago in Recklinghausen – Ruhrkunst 06/25
Gegen den Strom
Dieter Krieg im Museum Küppersmühle – kunst & gut 06/25
„Moderne Technologien werden immer relevanter“
Die Leiterin der Kunstvermittlung des ZfIL Unna, Christiane Hahn, über die neue Jahresausstellung – Sammlung 06/25
Geschichten einer Leidenschaft
Oskar Kokoschka mit den Porträts von Alma Mahler in Essen – kunst & gut 05/25
Bewegung und Berührung
Eva Aeppli und Jean Tinguely in Duisburg – Ruhrkunst 05/25
Einflüsse verschmelzen
Nadira Husain im Kunstmuseum Gelsenkirchen – Ruhrkunst 05/25
„Der Zweifel ist wach zu halten“
Direktor Nico Anklam über die Ausstellung der Ruhrfestspiele 2025 in der Kunsthalle Recklinghausen – Sammlung 05/25
Muster im Dunkeln
„Holding Pattern“ im Dortmunder U – Ruhrkunst 04/25
Notfalls gepunktet
Gritli Faulhaber in Essen – Ruhrkunst 04/25
Der Mensch in prekären Zeiten
„We“ im Kunstmuseum Mülheim – kunst & gut 04/25
„Was Handwerk und was Kunst ist“
Co-Kurator Markus Heinzelmann über „Das halbe Leben“ im Bochumer Museum unter Tage – Sammlung 04/25
Nudel, Mops und Knollennase
Loriot in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen – Ruhrkunst 03/25