Direkter lässt sich die Rezeption eines Romans nicht ausdrücken: Eine Leserin teilte auf Instagram ihre Eindrücke mit der Autorin Fatma Aydemir. „Sie zeigte Fotos von ihr, auf denen sie wegen des Buches weinte“, erzählte Aydemir im Gespräch mit der Moderatorin Fatima Khan. Ihre Tränen rührten sicherlich von der Schleife aus Tod und Trauer, Sehnsucht und Erinnerungen, Angst und Einsamkeit, die Aydemir in „Dschinns“ verpackt, einer sechsstimmigen Chronik einer kurdisch-deutschen Familie.
Im Grunde beginnt dieser Roman bereits mit dem Sterben und einem geplatzten Traum, als Hüseyin Yılmaz in Istanbul ankommt. Endlich, schließlich hat der Vater von vier Kindern über dreißig Jahre in Deutschland geschuftet. Immer wieder knüppelte er in einer Metallfabrik Überstunden, damit er bald als Rentner „dieses kalte, herzlose Land“ verlassen und in Istanbul seine neue Wohnung beziehen kann. Doch dann sticht es in Hüseyins Brust, ein tödlicher Herzinfarkt.
Auf nach Istanbul
Damit stirbt Hüseyin eine Woche vor seinem sechzigsten Geburtstag und seiner Frührente. Wie Aydemir betonte, sei dieser Tod in ihrem Roman alles andere als eine melodramatische Zuspitzung: „Das ist ein Narrativ, von dem ich oft in meinem Umfeld hörte“, so die Autorin. „Ich habe oft von Momenten gehört, in denen Männer und Frauen der ersten Gastarbeiter-Generation aus gesundheitlichen Gründen früh starben.“ Damit wollte die 1986 in Karlsruhe geborene Autorin auch vermeiden, einen nostalgischen bis verklärenden Blick auf die die Lebensumstände dieser sogenannten Gastarbeiter-Generation zu bestärken.
Nach dem islamischen Ritus muss der Vater achtundvierzig Stunden nach seinem Tod beerdigt werden, die Familie bricht daher nach Istanbul auf. Daraus webt Aydemir einen epischen Familienroman, erzählt aus den Perspektiven der Familienmitglieder. Sie durfte sich über positive Resonanz freuen. Ihr Roman landete nicht nur auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, die Lesungen locken auch in Dortmund ein großes Publikum an. Wegen der Nachfrage musste die Lesung kurzerhand verlegt werden: aus dem kleinen Literaturhaus ins Kino im U. Auch dort mussten die Gäste zunächst draußen warten, kurz wurde abgezählt, ob alle reinpassen. Wer die Lesung verpasst hat, hat dazu die nächste Gelegenheit bei der Eröffnung von Literaturdistrikt.
Unsichtbare Dinge
Die Redakteurin und Kolumnistin der taz gab nach ihrem Debütroman „Ellbogen“ zuletzt mit Hengameh Yaghoobifarah die Anthologie „Eure Heimat ist unser Alptraum“ heraus. Letztendlich streift auch „Dschinns“ die Diskurse über Identität und Herkunft, die sich im Stimmengeflecht wie Mosaiksteine zusammensetzen: neben den Eltern sind es unter anderem die drei erwachsenen Kinder der Familie, deren Perspektive sich in erlebter Rede öffnet.
„Es ist eine Art Glaube an Dinge, die im Raum sind“, erklärte Aydemir den Romantitel. „Im islamischen Glauben sind es unsichtbare Dinge, die uns bevölkern, ohne dass wir sie sehen.“ In ihrem Roman sprechen sie zu einem Vater, der nach jahrelanger Arbeit verfrüht stirbt.
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