Am Nachmittag vor seinem Literatürk-Auftritt besichtigte der Autor Max Czollek die Alte Synagoge in Essen. Natürlich entging ihm nicht das Adorno-Zitat auf einer Tafel. Der Philosoph empfahl einen Gesellschaftszustand zu denken, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann.“ Natürlich beruft sich Czollek ein paar Stunden später auf die Adorno-Autorität, die damals die Lehren aus Shoah und Rassenwahn formulierte. Aktuell rast die bundesrepublikanische Wirklichkeit wieder in eine völlig düstere Richtung. Oder wer lebt noch radikal verschieden, ohne Angst zu verspüren?
Um diese Bedrohung literarisch zu verhandeln, gaben die Publizistinnen Hengameh Yaghoobifarah und Fatma Aydemir die Anthologie „Eure Heimat ist unser Alptraum“ heraus. Namhafte AutorInnen wie Sasha Marianna Salzmann oder Margarete Stokowski reichten Beiträge ein. Zur Lesung und Diskussion im Rahmen des 15. Litertürk-Festival erschienen vier der AutorInnen in der Casa: der bereits erwähnte Max Czollek, sowie die Autorinnen Sharon Dodua Otoo, Mithu M. Sanyal und Nadia Shehadeh.
Sharon Dodua Otoo beschreibt sehr persönlich, wie das Vokabular einer weißen Mehrheitsgesellschaft ins Mark trifft. Wie verbale Waffen spürt die Mutter von zwei Kindern als schwarze Britin Aussagen, die harmlos bis scherzhaft daherkommen: Kannst du afrikanisch? Verkaufst du Drogen? Ihr Sohn zog sogar nach einem Griff in seine Haare eine bittere Konsequenz, wie Otoo erzählt: Nun trägt er Kurzhaarschnitt statt Afro. Doch er und seine Mutter fanden Wege, selbstbewusst gegen diesen Alltagsrassismus anzukämpfen. „Diesen Kampf zu führen, ist meine Heimat geworden“, erklärt die Autorin. Anders sah das noch bei ihren Eltern aus: „Ihre Strategie hieß, fleißig sein“, so Otoo. Dabei will die Aktivistin ihren Eltern keinen Vorwurf machen.
Doch die Maßstäbe einer weißen Dominanz hinterfragen alle vier Intellektuellen an diesem Dienstagabend. „Mein Vater hat das geglaubt“, erzählt Mithu M. Sanyal, wie er anfing, sogar beim Fußball mitzufiebern. Wie ein guter Deutscher eben. „Doch im besten Fall war er die Kopie eines Deutschen. Er wird trotzdem gefragt.“ Dann plumpst diese unselige Frage heraus: Woher kommst du her? Als Fremd wahrgenommen zu werden, gehörte auch zur Kindheit und Jugend von Nadia Shehadeh. Obwohl die Publizistin in Deutschland aufwuchs: „Es ist ein permanenter Zustand, der einen ständig begleitet.“
Und die Lösung? Einfach aus der Rolle des fremden Anderen heraustreten? Geht nicht, meint Max Czollek. „Dann spielen wir halt das Spiel mit“, empfiehlt der jüdische Autor. „Wir die Juden, ihr die Kartoffeln.“ Das Ziel: „Ausgrenzungs- und Zuordnungsmechanismen sichtbar machen.“ Denn immerhin werden ein Viertel der Bevölkerung ausgegrenzt. Dass Politiker wie Robert Habeck etwa den Heimat-Begriff für ein linksbürgerliches Klientel glattbügeln, hält Czollek für keine Strategie – selbst wenn er für MigrantInnen geöffnet werde. Es bleibe ja ein Integrationsdiskurs, der die Verschiedenen einverleibt und an völkische Ideologien anknüpft.
Modelle, die über diesen Heimatdiskurs hinaus gehen, werden die Zukunft ausmachen, hofft Czollek: „Ich glaube, dass sich gerade so was wie eine postmigrantische Linke entwickelt. Das hat die Parteieinlandschaft noch nicht auf dem Schirm.“ Antworten auf Rassismus und Klassenunterdrückung könnten jenes urdeutsche Harmoniebedürfnis, alles zu integrieren wegsprengen. Dem Heimatdiskurs hält Czollek das Bild einer Selbstverwirklichung ohne Angst entgegen. Wie schon Adorno.
Nadia Shehadeh
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