„Man muss so lieben, dass sich der geliebte Mensch frei fühlt.“ Eine sympathische Erkenntnis, nur erlebt Lina Scheynius genau das Gegenteil. Nach sechs Jahren Beziehung legt ihr Freund einen Brief aufs Kopfkissen, in dem er die Trennung von ihr formuliert. Darüber kommt Lina nur schwer hinweg.
Im Netz ist Lina Scheynius keine Unbekannte. Die heute 44-jährige Schwedin machte sich zunächst als Model einen Namen. Später erlangte sie überraschende Popularität als Fotografin mit intimen Stillleben und Aktaufnahmen von sich. Seither ist sie eine international erfolgreiche Künstlerin. In ihrem jetzt veröffentlichten Tagebuch hingegen beschreibt sie sich als eine in sich gekehrte, äußerst verletzliche Person. Zwar kämpft sie entschlossen gegen jede Art von emotionaler Abhängigkeit, aber dann erliegt ihr Stolz doch wieder der Sehnsucht nach dem ehemaligen Geliebten. Gefühle lassen sich eben nicht an- und abstellen.
Tagebücher nehmen mit dem Alltag auch dessen Wiederholungen auf und vermerken sie letztlich wie ein Kassenbuch des Lebens. So rekapituliert auch Lina Scheynius noch einmal die guten Momente ihrer Beziehung, blickt auf sexuelle Begegnungen, die schon einen anderen Ton anschlagen, denn sympathisch findet sie ihren Ex nun immer weniger. Und doch mag sie nicht von ihm lassen.
Obwohl sie sich an seinem schwierigen Charakter abarbeitet, rückt sie im Laufe dieses Prozesses doch selbst immer mehr ins Bild. Die interessantesten Passagen des Buches bestehen deshalb aus jenen Momenten, in denen sie sich ganz dem Nachdenken hingibt über die Liebe, den Sex, die eigene Herkunft und die Frage, ob die Mutterschaft das Richtige für sie sei. Plötzlich bekommt der Text Flügel und es stellt sich eine sympathische Intimität ein. Dazu passen ihre scheinbar unspektakulären Fotos, die das fein gestaltete Buch in ein geschmackvolles Objekt verwandeln. Lina versucht, wieder bei sich zuhause zu sein, fotografiert ihren Teller, tanz nur mit einem Hemd bekleidet in ihrem Zimmer oder sitzt nachsinnend vor dem Laptop. Nach viel weidwundem Klagen beginnt die Wunde langsam zu verheilen und verwandelt sich in ein smartes kleines Kunstwerk.
Lina Scheynius: Tagebuch einer Trennung | A. d. Engl. v. Eva Bonné | AKI-Verlag | 272 S. | 23 Euro
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