Nach dem unerwarteten Tod ihrer Mutter sucht die Tochter in der leeren Wohnung nach Antworten: Was ist geschehen? Ein genaues Todesdatum ist schwer festzustellen, ihre Mutter starb allein zu Hause und wurde erst Tage später gefunden. Das liegt auch daran, dass die Mutter sich zuletzt von ihren sozialen Beziehungen zurückzog und sich ganz auf ihre Beziehung mit dem Schauspieler Sam Heughan konzentrierte. Mit ihm war sie in konstantem Austausch per Chat, er war schon auf der Suche nach einem Haus für sie beide in Deutschland. Doch ständig gab es Zollschwierigkeiten, eingefrorene Konten und andere Notfälle, bei denen die Mutter aushelfen musste. So oder ähnlich, reimt die Tochter sich zusammen, muss die Geschichte aus der Sicht ihrer Mutter ausgesehen haben. Dass es tatsächlich der aus der Serie „Outlander“ bekannte Schauspieler war, mit dem die Mutter chattete, glaubt von den Angehörigen niemand.
Aus den spärlichen Informationen, die ihr Umfeld hat, setzt die Tochter in der Retrospektive die Geschichte zusammen und rekonstruiert anhand des Chatverlaufs, wann wie viel Geld geflossen ist und wie es dazu kommen konnte. Die ständige Frage, ob ihre Mutter all die Warnsignale nicht wahrgenommen hat, erübrigt sich, als klar wird, dass die Mutter das Risiko eines Betrugs bewusst in Kauf nahm – einfach, weil sie geliebt werden wollte. Der Love Scammer weiß sehr genau, wann ihn romantische Emojis und wann emotionaler Druck ans Ziel führen. Es ist hart, diese berechnende „Zuckerbrot und Peitsche“-Taktik aus Sicht der Tochter zu lesen.
Und doch: Wer Sarah Kuttner liest, kann sich darauf verlassen, dass es launig wird – auch bei so schwierigen Themen. Dem Buch fehlt es nicht an Humor und Selbstironie, während die Autorin zugleich auf einer Metaebene Schuldfragen und Gewissensbisse verhandelt. Sie dekonstruiert hier gelungen, welche Zutaten ein Heiratsschwindler braucht, um mit seiner Masche durchzukommen. Eine Stärke des Romans ist auch, die Geschichte zunächst einmal zuzulassen und statt Blindheit gegenüber Warnsignalen eine ganz andere Frage in den Vordergrund zu stellen: War die Mutter in dieser Beziehung glücklich – oder hat sie dabei dauerhaft auf Glück gewartet?
Sarah Kuttner: Mama & Sam | S. Fischer | 288 S. | 24 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Jenseits des Schönheitsdiktats
„Verehrung“ von Alice Urciuolo – Textwelten 12/25
Nicht die Mehrheit entscheidet
„Acht Jahreszeiten“ von Kathrine Nedrejord – Literatur 12/25
Power Kid
"Aggie und der Geist" von Matthew Forsythe – Vorlesung 11/25
Allendes Ausflug ins Kinderbuch
„Perla und der Pirat“ von Isabel Allende – Vorlesung 11/25
Inmitten des Schweigens
„Aga“ von Agnieszka Lessmann – Literatur 11/25
Die Liebe und ihre Widersprüche
„Tagebuch einer Trennung“ von Lina Scheynius – Textwelten 11/25
Mut zum Nein
„Nein ist ein wichtiges Wort“ von Bharti Singh – Vorlesung 10/25
Kindheitserinnerungen
„Geheimnis“ von Monika Helfer und Linus Baumschlager – Vorlesung 10/25
Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25
Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25
Von Ära zu Ära
Biographie einer Metal-Legende: „Sodom – Auf Kohle geboren“ – Literatur 10/25
Kutten, Kohle und Karlsquell
Lesung „Sodom – Auf Kohle geboren“ in Bochum – Literatur 10/25
Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25