Haben die etwa den Rockpalast aus der Matrix ins Bergbaumuseum verlegt? Bei der Schlange vor dem Bochumer Museum hätten sich zufällig vorbeikommende Passanten genau das fragen können: Langhaarige Männer, viele mit Bärten, die, wie die meisten anwesenden Frauen, schwarze T-Shirts mit martialischen Motiven und Jeanswesten voller Aufnäher tragen, begehren weit nach der regulären Öffnungszeit Einlass in die Hallen des Museums. Sie wollen zu einer Buchvorstellung, nicht zu einem Konzert, doch Heavy Metal sollen sie trotzdem kriegen: Mit der Vorstellung der Biografie der Band Sodom. Warum im Bergbaumuseum? Der Titel des Buches lautet „Auf Kohle geboren“ – das erklärt vielleicht so manches.
„Wir wollten gehasst werden“
Der Andrang war groß, nahezu jeder Platz des knapp 300 Menschen fassenden Saals war besetzt. Es soll die einzige Lesung des Buches sein, bei der nicht nur der Autor Holger Schmenk zugegen war, sondern auch Tom Angelripper, Bassist, Sänger und einziges verbliebenes Gründungsmitglied des Thrash-Metal-Urgesteins Sodom. Dessen Bodenständigkeit ist berühmt, genauso sein trockener Humor. Die Art, wie er spricht – lakonisch, pointiert, direkt – macht ihn zu „einem von uns“. Also nicht zu einem von uns Metalheads, sondern zu einem Ruhrpottcharakter.
Heavy-Metal-Rebell ist er auch nach mehr als 40 Jahren Bandgeschichte geblieben. „Wir wollten gehasst werden“ erzählt Thomas Such, wie Angelripper mit bürgerlichem Namen heißt, über die frühe Attitüde der Band, die die Landschaft extremer Musik weltweit beeinflusst hat. „Wir wollen jedes Album zum härtesten unserer Geschichte machen“ – bis heute. Sodom gehören nicht zu den Metalbands, die im Fernsehgarten auftreten. „Metal ist nicht nur eine Musikrichtung. Das ist eine Lebenseinstellung.“
Von der Zeche in die Charts
Und die Sache mit der Kohle? Tom Angelripper hat 1979 seinen Realschulabschluss in Buer gemacht, um danach eine Lehre als Bergmann zu beginnen. Bis 1989 das Sodom-Album „Agent Orange“ sogar den Charteintritt schaffte, arbeitete er auf der Zeche Hugo. Das war das dritte Album der Band, und die Doppelbelastung als Musiker und Kumpel war zu viel. Eine Entscheidung musste getroffen werden. Die fiel zugunsten der Musik, was den Vater nicht sehr glücklich machte, wie wir im Buch und im Gespräch auf der Bühne erfahren.
Dieses Gespräch lief so, dass der Autor Holger Schmenk eine Passage aus dem Buch vorlas – meist eine humorige Anekdote – und anschließend Tom nach Details dazu befragte. Der antwortete mal fast wörtlich genau das, was auch im Buch zu lesen ist, mal kommentierte er mit neuen Gedanken. Kurzweilig war es dank der Auswahl der vorgestellten Passagen und Angelrippers Humor allemal, so dass das Publikum dankend annahm, dass die Veranstaltung weit länger als die angekündigten 90 Minuten währte, auch wenn in der zweiten Hälfte in strammem Galopp durch die Bandgeschichte gereist wurde.
Pils zum doppelten Preis
Aber was ist denn nun mit der Kohle? Die spielte an diesem Abend keine große Rolle. Angelrippers Liebe zu seiner Heimat Gelsenkirchen-Buer, die Metalszene im Ruhrgebiet seit den 80er Jahren, die aggressive Musik in einem eher konservativen Umfeld, das sind spannende Aspekte der Ruhrgebietsgeschichte – der wohlwollendste Kommentar stammte von Suchs Großmutter: „Lass den Jungen mal machen, das hört schon irgendwann wieder auf“. Über die Arbeit unter Tage haben wir immerhin gelernt, dass der Kauenwärter das Karlsquell-Pils vom Aldi zum doppelten Preis an die Kumpels verkauft hat, kaum dass diese nach der Schicht wieder über Tage kamen. Und vielleicht ist das auch besser so, denn dies sind die Geschichten, die noch nicht so oft erzählt wurden.
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