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Foto: Sylvia Witt

„Charaktere mit echten Biografien“

19. Mai 2025

Oliver Uschmann über seinen Roman „Ausgefranzt“ – Literatur 05/25

Im Roman verschwindet Franz Kafka plötzlich mitsamt seiner Werke aus dem kollektiven Gedächtnis. Der verschuldete Schriftsteller Joris nutzt die Gelegenheit, um dessen Roman „Der Process“ neu zu schreiben und als seinen eigenen auszugeben. Doch Joris hat die Rechnung ohne den heutigen Literaturmarkt gemacht.  

trailer: Oliver, ich habe dein Buch jetzt zur Hälfte gelesen. Die Grundidee eines Werkes, das plötzlich nicht mehr existiert, gab es schon im Film „Yesterday“ von Danny Boyle. Hat er dich beeinflusst?
Oliver Uschmann:
Tatsächlich kenne ich den Film bis heute nur vom Namen her und habe ihn immer noch nicht gesehen. Ich arbeite diese Grundidee ganz anders aus. Zum einen, was die Erfolgsaussichten meines Protagonisten angeht, zum anderen in der literarischen Konstruktion, bei der ab dem Moment, wo Kafka selbst verschwindet, die Motive seiner Werke in das „reale“ Leben meiner Hauptfigur hineinbrechen.

Ähnlich wie Joris hegst du eine Liebe für „hohe Literatur“. Gibt es einen literarischen Uschmann-Roman in irgendeiner Schublade, während die Fans eher nach dem Jubiläum deiner Unterhaltungsromane aus der Reihe „Hartmut und ich“ dürsten?
Die Frage ist amüsant, denn du machst hier genau den apodiktischen Unterschied zwischen „E“ und „U“ („Ernst“ und „Unterhaltung“, Anm. d. Red.) auf, den ich in „Ausgefranzt“ auf‘s Korn nehme und der sogar schon Einzug in den fünften Hartmut-Roman „Feindesland“ gefunden hat. Dort besuchen Hartmut und der Ich-Erzähler ein modernes Verlagshaus und finden eine hermetisch verriegelte U-Boot-Tür vor, welche die Abteilung der Unterhaltung von jener der „hohen Literatur“ trennt. Allein diese kafkaeske Szene in einem „leichten“ Unterhaltungsroman deutet schon an: die Hartmut-Bücher sind für meine Frau und mich alles andere als irgendein Dienst am Kunden. Sie sind unser künstlerisches Zuhause, ein dichtes Geflecht aus Motiven, Subtexten und Charakteren, die zwar auch Träger von Satire und Humor sind, aber echte Biografien haben. Es gibt ja einen Grund, wieso der dritte Roman „Wandelgermanen“ einst den Literaturpreis NRW für junge Künstler gewann und das Museum für westfälische Literatur, das Kulturgut Haus Nottbeck, uns ermöglichte, die „Hui-Welt“ (die Welt von „Hartmut und ich“, Anm. d. Red.)als bewohnbaren Themenpark aufzubauen und dieses Gelände drei Monate lang zu bespielen. Die sechs Hui-Romane bei S. Fischer durften damals eine unglaublich freie Evolution vollziehen – vom als Roman verkleideten Kurzgeschichtenband über die Sozialsatire, den mythologisch aufgeladenen LSD-Trip, die Ratgeber-Karikatur, die bitterböse politische Dystopie mit brutal-ernstem Ende und den Reiseroman aus vier Erzählperspektiven. Es gibt intertextuelle Verknüpfungen mit einigen unserer Jugendromane; auch „Ausgefranzt“ macht ein Wurmloch in die Hui-Welt auf. Ja, es liest sich alles leicht, man kann es oberflächlich wegsüffeln wie ein Bierchen an einem Sommerabend, aber man findet bei bewusster Verkostung sehr viele Aromen, beim Tauchgang ganze Korallenriffe in der Tiefe. Ich vergleiche diesen Ansatz gern mit guter Popmusik, vor allem mit der von mir sehr geliebten, mittleren Phase von Genesis, als sie kein reiner Progressive Rock mehr waren, aber auch noch nicht die Hit-Maschine. In diesem Sinne sind die Hartmut-Sachen wahrscheinlich irgendwo zwischen „And Then There Were Three“ und „Abacab“ – und „Ausgefranzt“ ist mit seinen etwas heftigeren Abgründen und seiner perfiden Konstruktion wahrscheinlich „Duke“. 

An deiner Stelle würde es mich in den Fingern jucken, den Mandela-Effekt mit den Lesern durchzuspielen, also beim Nacherzählen von „Der Process“ Szenen zu behaupten, die es im Original nicht gibt.
Großartige Idee, aber tatsächlich, das darf ich spoilern, erinnert meine Figur die Textstellen korrekt und wortwörtlich. Er sagt ja nicht umsonst an einer Stelle, „Der Process“ sei seine Bibel – und auch wenn es erfahrungsgemäß eher im Islam so ist, dass manche Menschen den Koran tatsächlich auswendig können, trifft dies zumindest auf das Neue Testament wahrscheinlich auch bei einigen Klerikern und Mönchen zu. Der Mandela-Effekt spielt sich in dem Roman auf anderer Ebene aus.

Was mich ein wenig stört an dem Roman, ist die Übersexualisierung. Ständig Masturbationsphantasien find ich etwas viel für die Story. Vielleicht kommt da aber noch die Auflösung, dass Joris letztlich genauso unterfickt ist wie es die Schülerinnen am Anfang des Buches Kafka zuschreiben?
Die sexuellen Irrungen und Wirrungen von Joris, vor allem in Bezug auf seine Nachbarin, aber auch auf weitere Figuren, haben einen Sinn, den ich hier erst in Gänze offenbaren könnte, würde ich zu viel spoilern. Ich formuliere es mal so: Es ist unmöglich, über „Ausgefranzt“ ein abschließendes Urteil zu fällen, ohne den Roman abgeschlossen zu haben.

Du hast ja eigentlich Kontakte zu Publikumsverlagen – wie bist du an den jetzigen gekommen?
Vor zehn Jahren hätten S. Fischer, Rowohlt oder Heyne dieses Buch ziemlich sicher verlegt, ich bin aber auf eine Weise glücklich, dieses Herzensprojekt bei Adakia zu machen, die ich kaum beschreiben kann. Dort gibt es noch einen Verleger, der Bücher liebt und eine anspruchsvolle, aber nicht-elitäre Spanne von Literatur zwischen den Stühlen. Die Publikumsverlage hingegen tanzen allesamt nur noch um das goldene Kalb der „Reichweite“. Sogenannte „Midlist“-Autoren, die früher fast vollständig von ihrem eigenen Schreiben leben konnten, sind heute meist Dienstleister für jene, die im Jahre 2025 seitens der Verlage alle unbedingt Bücher machen sollen, aber keine Bücher machen können, weil sie keine Schriftsteller sind – Promis, Coaches, Influencer. Wenn du dann neben all dem Ghostwriting, von dem du als Brotberuf lebst, dich endlich wieder selber völlig frei künstlerisch austoben darfst, ist das pure Erfüllung.

Du hast nicht die Frage beantwortet, ob eines Tages noch ein rein „ernster“ Roman von dir kommt.
Wenn du mit „ernst“ wirklich wörtlich meinst, dass die Geschichte völlig ohne Humor auskommt – was übrigens auch Kafka selbst oder Thomas Mann aus der Riege der reinen Literatur kickte –, muss ich sagen: möglich, aber es dauert. Ich habe im Grunde dreißig Jahre benötigt, um einen Text zu erschaffen, der Franz Kafka gerecht wird, indem er das Kafkaeske in einen ganz eigenen Ansatz überträgt. Kann sein, dass es für einen Uschmann-Roman, der todernst und hart wie Pumpernickel ist, dabei aber funktioniert, noch mal dreißig Jahre braucht.

Zum Schluss doch noch einmal Hui: Was dürfen die Zuschauer erwarten im Bahnhof Langendreer?
Die „murpige“ (Kunstwort von Oliver Uschmann,in etwa: „sinnfrei“, Anm. d. Red.) Freude an Improvisation, bewusster Verzettelung und auf der Bühne ausgelebter Männerfreundschaft, denn ich teile mir den Abend ja mit Tommy Finke, Dominik Buch, Carsten Wunn, Michael Holtschulte und Hennes Bender. Die ersten fünf geben eigene Songs und Texte zum Besten, die selber „hartmutesken“ Geist atmen. Hennes wiederum liest mit mir Hartmut in Rollenrede – und ich freue mich jetzt schon darauf, wie er in der Rolle von Hartmut auf seine ureigene Art cholerisch steil geht. Wir talken, wir trinken, wir tauschen uns mit dem Publikum aus. Es wird ein Wohnzimmer.

Oliver Uschmann, Tommy Finke & Friends: 20 Jahre „Hartmut und ich“ | Mi 11.6. 20 Uhr | Bahnhof Langendreer, Bochum | bahnhof-langendreer.de

Interview: Frank Schorneck

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