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Foto (Ausschnitt): Sammy Deigh

Erste Male zwischen den Welten

31. Juli 2025

„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25

Sissy ist mit ihrer Mutter nach Südwestengland gezogen und die Neue an der Schule. Anschluss zu finden fällt der 11-Jährigen schwer, bis sie sich mit der ein Jahr älteren Tegan anfreundet. An der Schwelle zum Frau-Werden überschreiten die Mädchen bald Grenzen. Es ist die Zeit anonymer Chaträume, in denen sich Männer für Jungen ausgeben. Sissy und Tegan wissen, dass sie ihre Adresse hier nicht teilen sollten, und tun es doch. Sie besprechen Veränderungen, die sich durchmachen, erleben gemeinsam erste Male. Doch Tegan ist oft einen Schritt voraus. Dass zusätzlich Sissys Mutter mit Depressionen kämpft und ein Mädchen aus der Nachbarschaft verschwindet, verdichtet die Handlung zu einem Gefühl von ‚zu viel‘, das so prägend für dieses Alter sein kann.

Wetherall erzählt mit einer Mischung aus kindlicher Naivität und abgeklärter Sicht Heranwachsender. Die Geschichte im Setting der 1990er adressiert die Herausforderungen weiblicher Pubertät: Ungefragte Kommentare zum Körper, plötzliche Tabuisierung von Beinhaaren. Ein Gelöbnis, mit Masturbation aufzuhören, sobald die gesellschaftlich vermittelte Scham überhandnimmt. Das ständige Gefühl, Erfahrungen anderer endlich auch machen zu müssen. Dieses Aufholbedürfnis bereitet übergriffigem Verhalten Nährboden. Die Handlung steckt voller ungefragter Sexualität, unterschwelliger Bedrohung wie offener Gewalt. Auch macht Wetherall im Wechsel von Zuneigung und Ablehnung ihrer Protagonistinnen und deren Wünschen nachvollziehbar, wie sehr Widersprüche diese Zeit prägen. Man sehntdie erste eigene Periode herbei und realisiert erst dann, was damit einhergeht.

Es geht zugleich um nicht weniger als die realen Gefahren, denen Mädchen und Frauen aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt sind. Immer wieder hebt die Autorin die Erzählung auf eine Metaebene, indem sie auf die Geschichte der Meerjungfrau verweist, die sich zu Meeresschaum verwandelt, weil sie nicht rechtzeitig geliebt wurde. Oder auf Frauen, die in klassischen Mythen angesichts männlichen Begehrens in einen Baum oder Vogel verwandelt werden, damit sie nicht entkommen oder klagen können. Zwischen Angst und Scham finden die Protagonistinnen aber auch neue Kraft in ihren Veränderungen. Wetherall erzählt all das mit Feingefühl, die Geschichte ist so verstörend wie betörend.

Tyler Wetherall: Amphibium | Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn | dtv | 352 S. | 25 Euro

Melanie Schippling

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