Die Bühne ist leer, es gibt keine Requisiten, die Kostüme könnten private Kleidung sein: „Intimacy“, die neue Inszenierung um die Regisseurin Simina German, ist kein Abend der großen Bilder, sondern vertraut ganz auf die DarstellerInnen Sven Gey, Pia Alena Wagner, Johanna Wieking und den Musiker Yotam Schlezinger. Schon zum zweiten Mal kommen die KünstlerInnen in dieser Zusammenstellung im Maschinenhaus Essen zusammen. Ein eingespieltes Team also, das zeigt sich vom ersten Augenblick an. Obwohl das Licht im Publikum zunächst an bleibt und die DarstellerInnen lässig vom Tribünenrand aus die ersten Texte sprechen, erschaffen sie vom ersten Moment an eine konzentrierte Atmosphäre. Ein Auftakt, von dem aus für die nächste Stunde alles möglich zu sein scheint.
„Intimacy“ ist eine Stückentwicklung, deren Texte aus der Feder von Akin E. Şipal stammen. Verhandelt wird ein Thema, das kaum aktueller sein könnte: Nach einem Terror-Anschlag sucht der Attentäter Zuflucht im Wohnzimmer einer Familie, er bittet um ein Glas Wasser. Die Familie hält ihn wie selbstverständlich für ein Opfer des Terroraktes und gewährt ihm Zuflucht. Aus dieser Begebenheit ergibt sich ein unendlicher Gedankenspielraum: Gibt es hilfsbedürftige TäterInnen? Welche Grundbedürfnisse sind Ihnen zu gewähren? Zu was sind wir immer und überall verpflichtet? Wie reagiert man innerhalb des heimischen Wohnzimmers auf Terror, wie innerhalb der sozialen Netzwerke? Gibt es dazwischen einen Unterschied? Oder anders: Gibt es noch sichere Räume, wenn „Facebook live“ den Terror in Echtzeit übertragen kann?
Um dem ausufernden Thema Herr zu werden, beginnt die Gruppe mit dem kleinstmöglichen Motiv: Mit dem Glas Wasser. Gey, Wagner und Wieking philosophieren über das lebensnotwendige Element, über Spiegelbilder, die vom Winde verweht werden, darüber, wie man sich selbst im eigenen Abbild erkennt und auch wieder nicht. Präzise werfen sie sich die Sätze über Bande zu und ergänzen einander perfekt.
Ab dem Moment, in dem die drei beginnen den Bühnenraum zu erobern, funktioniert der Abend wie ein facebook-feed: Locker aneinander gehängte Blöcke, die jeweils ohne einander funktionieren würden, aber doch miteinander in Zusammenhang stehen, quasi verlinkt sind. Neben Einblicken in das Wohnzimmer, in dem der Terrorist Zuflucht gesucht hat, lauschen wir einem Gespräch, in dem ein Moderator und eine sogenannte Terrorismusexpertin aneinander vorbeireden. Wir hören einen Monolog über die Frage, warum sich Menschen heutzutage für die Polizei als Arbeitgeber entscheiden und diverse Versuche, sich auf der leeren Bühne zu verstecken. Wir hören Sätze, die völlig aus dem Zusammenhang gerissen sind („Den Sud schön aufheben und mit in den Smoothie geben“ oder „Freiheit ist ein hohes Gut, nur der Eiffelturm ist höher“). Doch immer wieder werden wir in die Geschichte zurück geholt, die den Kern dieses Abends bildet, so als hätten wir auf den Aktualisierungs-Button gedrückt.
Trotz der losen Dramaturgie wirkt der Abend nicht beliebig. Zu gut ist dafür die Chemie zwischen den DarstellerInnen, zu genau die Texte. Anders als in den sozialen Medien gibt es hier kein Wort zu viel und keines zu wenig. Doch auch wie nach dem Durchscrollen des eigenen Feeds hinterlässt der Abend ein Gefühl der Leere. Am Ende landen die drei DarstellerInnen wieder am Anfang, sprechen denselben Text über das Wasserglas – nur an einer anderen Stelle der Bühne und angestrahlt von einem Scheinwerfer. Geklärt ist nichts, es wurde keine Frage beantwortet, dafür umso mehr Themen angerissen, doch die Perspektive scheint verändert. So findet Simina German ein aussagekräftiges Bild für etwas, dass wir uns nicht genug bewusst machen können: Die Welt ist komplizierter, als jede Schlagzeile sein kann.
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