Das beste Theaterfestival der Welt. Eine Aussage die genauso eindeutig ist wie die Frage nach dem echten oder wahren Heino. Aber – dieses selbstherrliche Theaterfestival gibt es im Ruhrgebiet tatsächlich. Und es lügt am laufenden Band. Denn das Motto der „Favoriten“ für 2016 heißt „Blendwerke!“. Und so erstaunlich eine derart negativ besetzte Konnotation auch ist: Täuschung, Trug und Fälschung gehört tagtäglich zu unserem Leben, zur Gesellschaft in der wir leben, zur unfreien Medienlandschaft, zur straffälligen Kirche, zum Plagiat oder zum verbotenen Sampling von drei Roboter-Tönen. Selbst der „Stairway to Heaven“ war eben nur Blendwerk. Pfui. Von Ausreden haben wir genug, außer natürlich bei den „Favoriten“.
Was erwartet uns neben einem neuen Film von René Pollesch und störenden Videobildern von Adolf Winkelmann? Vielleicht eine Installation, ein Tanz, ein Körper, aber keine Menschen? Ist das der Weg in die post-humane Zukunft? Irgendwann dreht nur noch ein Pferd seine Kreise. Mit Kölner Design-Studenten entwickeln Billinger & Schulz ein „absent horse“, als installative Begleitung ihrer derzeitigen Trilogie „Unlikely Creatures“. Das Pferd erinnert an romantische Automaten, mechanische barocke Bühnentiere und die ersten Experimente des Kinos aus Zeiten, als die Bilder laufen lernten und einfache Experimente noch massenhaft in dunkle Räume lockten.
Kann denn das Post-Humane überhaupt verhindert werden und wenn ja, wie? Durch Gleichheit, durch serielle Ordnung auf allen Wegen? Der französische Choreograf und Tänzer Jérôme Bel zeigt in seiner Arbeit „Gala“ vielleicht einen möglichen Weg. Da sind alle gleich, gerade weil sie alles andere als gleich tanzen. 18 völlig unterschiedliche Menschen erobern die Bühne, mit standardisierten und individuellen Choreografien. Eine strukturierte Performance über die unterschiedlichen Möglichkeiten von Performern mit und ohne Behinderung, mit und ohne tänzerische Ausbildung und doch eine Harmonie über Regeln ohne Zwang. Einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgen dorisdean aus Bochum. Sie machen dem Publikum bei „Hypergamie“ ein performatives Angebot, die körperliche Unversehrtheit temporär aufzugeben (durch Schaumstoffprothesen), um so als Requisit für eine fingierte Hochzeit zu fungieren. Der Zufall bestimmt darüber, wer die Performance aus Musik und Tanz mit Behinderung erlebt und wer nicht. In einem festlich dekorierten Saal kommen dann alle zusammen, die Braut ist körperlich behindert, der Bräutigam nicht. Gemeinsam werden nun Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit hinterfragt.
Bleibt noch das politische Blendwerk. Da zeigen Sir Gabriel Dellmann Ergebnisse ihrer Erforschung der gesellschaftlichen Zustände. Es geht bei „Poser (sic!) – Gebt Gedankenfreiheit?“ um die Gedanken und die Posen. Die schillernde Performance über Grundfragen der Überwachungsgesellschaft ist eine Uraufführung, die bei „Favoriten“ gezeigt wird, mit schamlosem Griff in den Schritt der Politik und in die Schmuckkästchen der Popkultur, und irgendwie gehört das „gemeine“ Reclamheft ja auch längst dazu. Ganz im Sinne des „Blendwerks“.
Favoriten 2016 | 23.9.-2.10. | Dortmunder U und Unionviertel | www.favoriten2016.de
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