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Die Gruppe vorschlag:hammer
Foto: Paula Reissig

„Ich bin ein Produkt meiner Zeit“

03. Juni 2016

„Die Erfindung der Gertraud Stock“ der Gruppe vorschlag:hammer – Theater Ruhr 06/16

Vier junge Menschen treten vor einen grauen Vorhang. Sie alle tragen einen Fön um den Hals, verbunden mit einer leeren Stoffhülle, ebenfalls am Hals befestigt. Gemeinsam schalten sie die Geräte ein und die Stoffhüllen werden zu skurrilen Hüten aufgeblasen. Einer sieht aus wie ein Donut, einer wie ein Vogel. Dabei sagt niemand ein Wort. Es wird gelächeltund eine kleine Choreographie dargeboten. Bis die Luft herausgelassen wird und der Abend „Die Erfindung der Gertraud Stock“ mit einer freundlichen, immer noch sehr leisen Begrüßung beginnt. Diese rätselhafte Szene nimmt den vielschichtigen Abend der Gruppe vorschlag:hammer wie eine Ouvertüre vorweg.

Es soll ums Altwerden gehen, um Zerfall, um die hunderttausend kleinen und großen Erlebnisse, die ein Leben im Rückblick ausmachen und wie diese einzuordnen sind. Ist es ein Blick zurück im Zorn? Oder einer, den nichts mehr aus der Ruhe bringen kann? Gibt es ein totales Ankommen in der Gegenwart? So skurril die Hüllen aussehen, so absonderlich sind unzählige Momente eines Lebens. So schnell wie sie aufgeblasen sind, so kurzlebig ist das Dasein und so unaufhaltsam der Zerfall, sobald die Luft raus ist. Wie ein alter Mensch, den nichts mehr verunsichern kann, stehen die vier PerformerInnen da und halten lächelnd die Blicke des Publikums aus.

Dreiviertel des Abends spielen vor dem grauen Vorhang. Fragmente der Lebensgeschichte der 84-jährigen Gertraud Stock werden erzählt, jedeR der vier behauptet, diese Frau Stock zu sein. Viele Geschichten hat man so oder so ähnlich von der eigenen Großmutter schon mal gehört und auch die stickige Luft der Bühne 3 des Ringlokschuppens erinnert an die stets gut geheizten Räume älterer Damen, die viel zu erzählen und viel Zeit haben. Das mindert die Faszination, die von diesen Geschichten ausgeht nicht, sondern führt zu dem Vorsatz, mehr alte Menschen auszufragen. vorschlag:hammer öffnet mit minimalistischen Mitteln den Weg in das Innenleben einer Frau, das eine kleine Schatzkammer von Anekdoten ist, die viel über die Zeit erzählen, in der sie entstanden sind. Wie der Kontakt zur besten Freundin plötzlich untersagt wurde, weil diese Jüdin war. Wie schon als kleines Kind aufgepasst wurde, was man im Dorf vom Familienleben erzählt, damit niemand die Eltern wegholt. Es wird von ersten sexuellen Erfahrungen berichtet (dabei wird das Licht anstandshalber gedimmt). Aber auch davon, sich für das Leben im Altersheim zu entscheiden und dass die Wartezeit für ein Einzelzimmer bis zu 25 Jahre beträgt. Schon aus dem Ankündigungstext geht hervor, dass keine lineare Geschichte einer Person erzählt werden soll, sondern dass viele Geschichten älterer Menschen zu einer Biographie verwoben werden. Es an diesem Abend darum, dass jede Biographie ein Konstrukt ist. Oder anders gesagt: Die Gegenwart verändert permanent die Vergangenheit.

Im letzten Teil des Abends wird das Publikum hinter den Vorhang geführt. Dort gibt es ein Labyrinth aus Vorhängen, die vier kleine Räume bilden. Das Publikum wird in kleine Gruppen geteilt und besucht nach und nach jeden der Räume, in denen die PerformerInnen einzeln agieren. Die Räume sind eng und erzwingen eine Intimität, die beinahe übergriffig wirkt, eine Welt die nach Regeln spielt, die nur die PerformerInnen kennen. Beispielsweise ist ein detailgenaues Wohnzimmer aufgebaut und ein Performer trinkt darin einen Piccolo und bietet wortlos Karamell-Bonbons an. Oder eine Performerin betrachtet in einem sehr schmalen Raum eingehend die Gesichter des Publikums mit der Bemerkung, sie stelle sich die Gesichter nun deutlich älter vor. Sie hält das sehr lange aus. Es fühlt sich an, wie die totale Gegenwart, aus der es kein Entkommen gibt, in einer Umgebung, die nicht zu verstehen ist, weil bekannte Regeln nicht mehr greifen.  Ein unangenehmes, aber höchst treffendes Bild, wie sich „alt sein“ anfühlen kann. Der Abend endet mit einer traurig-schönen Anekdote, wie Gertraud Stock das Sterben übt. Sie legt sich hin, lässt die Angst kommen um dann zuzusehen, wie sie langsam verklingt.

Es ist ein stiller und gnadenloser Abend, der die Unausweichlichkeit des Alterns nicht nur aufarbeitet, sondern erfahrbar macht.

 

Die Erfindung der Gertraud Stock | vorschlag:hammer | Sa 4.6. und So 5.6. jeweils 18 Uhr und 20.30 Uhr

LISA KERLIN

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