Journalisten beobachten aus der Distanz. So grundsätzlich lässt „Verräter“ sich lesen, die Uraufführung zum Schicksal des türkischen Journalisten Can Dündar. Freilich mit keineswegs abstraktem Hintergrund: Ebenso wie viele gleichfalls verfolgte Kollegen wurde der Ex-Chef der Zeitung „Cumhüriyet“ gezwungen, diese Rolle auch ganz wörtlich anzunehmen: Nach einer Anklage in der Türkei und einem auf ihn abgegebenen Schuss lebt Dündar heute im Berliner Exil.
Ein Mann des freien Worts – verfolgt, doch unbestechlich: Der Fall Can Dündar ist jetzt auch Theater. Dündar wurde 2015 angeklagt wegen Berichten zu türkischen Waffenlieferungen an Islamisten, zu sechs Jahren Haft verurteilt und lebt heute im Exil in Berlin. Er ist keineswegs „nur“ Theater, sondern aktuell und lebendig. Das Stück „Verrat“ auf Basis seiner Texte, das jetzt am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel Uraufführung feierte, präsentiert seine Geschichte aber in der Tat theatral, also mit Mitteln der Bühne. Mit surrealen Situationen, die ganz Reales bildlich umsetzen und so letztlich klar und fühlbar machen.
Castrop – was? In der kleinen Ruhrgebietsstadt weiß man um die Irritation, auf die ihr Name stößt, zumal wenn ausgerechnet hier das Stück zum prominenten Erdogan-Kritiker herauskommt. Vor der Premiere am Europaplatz hieß es denn auch: „Wir sind Castrop-Rauxel, und wir machen das! Damit müssen die anderen klarkommen.“ Was nach etwas komischem Trotz klang, schien ein bisschen einleuchtender durch den Umstand, dass also ein Tourneetheater hinter der Produktion steht: Wenn die Arbeit von Christian Scholze nun durch die Lande tingelt, reist ihre Botschaft mit. Eine Botschaft hat „Verrat“ nämlich, sehr entschieden.
Werbung für freie Presse, freies Wort überhaupt ist die Mission des Journalisten. Pamphletartig stellt er Forderungen auf, und in Berlin, am erzwungenen Arbeitsort, setzt er es täglich um: Kontinuierliche Einschätzungen zum Tagesgeschehen gibt es von Dündar über Özgürüz. Das deutsch-türkische Online-Magazin wurde zusammen mit Correctiv gegründet, dem in Essen ansässigen Recherchenetz. Die Inszenierung vermittelt im Grunde den Eindruck eines Statements: Der Kampf ums freie Wort geht weiter – notfalls eben von außen.
Nah und fern: das ist heute ein zentraler Bühnenansatz. Can Dündar steht – soweit man denn eine bloß virtuelle Verbindung „eng“ nennen kann – in engem Kontakt mit seiner Frau, die die Türkei nicht verlassen darf. Wie paradox das ist und wie quälend, davon gibt gerade die Bühnensituation eine Ahnung: Stehen doch Neven Nöthig und Susanne Kubelka als SchauspielerInnen physisch kaum ein paar Meter entfernt und auch beim Spiel nicht etwa voneinander abgewandt. Was in der Türkei geschieht, spielen Andreas Kunz und Songül Karaca, und die Figur Dündar kommentiert es von ihrer Warte. Die Warte: Ein Käfig.
Das Bild ist etwas komplexer als es scheint, denn man erlebt keine brutale Einkerkerung, und Dündar selbst zieht die Tür zu. In der Tat: Es war zunächst eigene Entscheidung des Journalisten, nicht in die Türkei zurückzukehren, zumindest so lange der Ausnahmezustand galt. Das Stück widersteht insgesamt der Versuchung, den Verfolgten massiv als Opfer auszugestalten. Was Scholze mit seinem Spiel zeigt, ist ein stiller, aber unbeirrter Kämpfer. Zuweilen, etwa wenn er gegen Ende „We will rock you“ skandiert, verleiht er ihm sparsame, vielleicht linkische Bewegungen, wohl gerade um zu betonen, dass Dündars Waffe eher das Wort ist.
Zum Theatralen gehört auch das Theatralische, und so scheut denn die Inszenierung nicht das wohl dosierte Pathos: „Es ist die Zeit, alleine aufzustehen“, lässt sie den Journalisten sagen. Ein weiterer Satz ist: „Manchmal reicht ein hölzerner Stuhl, um einen goldenen Thron zu stürzen“, und ihn spricht Songül Karaca, die aber schon ganz zu Beginn für Rührendes sorgt: Auf Türkisch singt sie noch unsichtbar ein Lied, und im Saal stimmen offenbar einige Landsleute ein. Es ist ja nicht zuletzt einfach eine sehr traurige Lage, sein Land auf Abwegen zu sehen. Dass Dündar selbst das sieht und dabei differenziert, zeigen seine Berichte von fern: „Der Richter wurde verhaftet, weil er mich nur zu fünf Jahren verurteilt hat.“ Trauer klingt durch, vor allem aber Unverständnis und Entschlossenheit. Wen selbst sein Gegner inzwischen Opfer ist, muss es schlimm stehen.
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