1999 ließ Regisseur David Fincher ins seinem Film „Fight Club“ Männer in stinkenden Kellerlöchern gegeneinander kämpfen. Männer, die wenig zu verlieren und überhaupt nichts zu gewinnen hatten, sich aber nur lebendig fühlen konnten, wenn ihnen jemand die Scheiße aus dem Leib prügelte. So ähnlich verhält es sich auch in Brechts „Im Dickicht der Städte“. Hier wird zwar weniger physisch, aber mit nicht minder harten Bandagen gekämpft.
In einer Leihbücherei trifft der wohlhabende Holzhändler Shlink auf den Angestellten Garga und provoziert ihn. Ein Streit bricht aus und eskaliert, bis Mobiliar zu Bruch geht und Garga dadurch seinen Job verliert. Aber jetzt geht der Kampf erst richtig los. Die beiden Kontrahenten versuchen einander zugrunde zu richten und werfen alles in den Ring, was sie haben und wertschätzen (Geld, Träume, Freiheit, Beziehungen, Familie). Eine Firma geht bankrott, ein Mann landet im Gefängnis, Frauen werden zur Prostitution gezwungen, Familien zerbrechen. Dabei will Shlink doch einfach nur geliebt werden und Garga endlich nach Tahiti auswandern. Die Gründe für diese Eskalationsspirale des Hasses bleiben dabei aber nebulös.
Über Brechts Text hinaus
Brecht ging es um die rohe, von gegenseitigem Hauen und Stechen angetriebene Natur des Menschen insgesamt, verstärkt durch die Bedingungen der Großstadt zu Beginn der „Roaring Twenties“. Die Handlung verlagerte er in eine imaginierte Variante Chicagos, sie hätte aber auch im Berlin der 1920er Jahre angesiedelt sein können. Eine Epoche, in der sich Brecht und seine Zeitgenoss*innen mit einer rasanten Modernisierung konfrontiert sahen, die neue Freiheiten schenkte und verläßliche Gewissheiten sprengte. Brecht versuchte mit diesem Stück aber auch, das Unbehagen der Anonymität, Entwurzlung und Multikulturalität im urbanen Schmelztigel in Worte zu fassen.
Regisseur Jan Friedrich versucht dem Stück eine zweite Ebene hinzuzufügen. Er will nicht nur den Mechanismen des ewigen Kampfes, diesem Hauen und Stechen und deren Ursachen auf die Spur kommen. Er fragt auch danach, was uns der bald einhundert Jahre alte Text über unsere Gegenwart verraten kann und forscht nach Exotisierungen (Tahiti als exotischer Sehnsuchtsort, Shlink stammt aus dem heutigen Malaysia) und Sexismen. Die wabern nämlich noch in Brechts Subtext, auch wenn die offensichtlichen Passagen längst gestrichen sind. Ergänzt wird der Text durch Ko-Autorin Julienne De Muirier. In Kombination mit den filmischen Elementen, festgehalten von Nora Daniels Live-Kamera, verspricht „Im Dickicht der Städte“ auch im digitalen Format spannend und ungeheuer zeitgemäß zu werden.
Im Dickicht der Städte – Eine offene Probe | R: Jan Friedrich | Do 08.04. 19:30 Uhr (P, Stream bis 24:00 Uhr verfügbar) & 17.04., 18.04., 19.04., 30.04. jeweils um 19:30 Uhr | Theater Oberhausen
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