Der Sommer ist vorüber, die Hochkultur lockt mit lässiger Arroganz. Was täte da Not? Rock’n‘Roll im Ruhrgebiet, Anarchie auf den Bühnen. Doch was tummelt sich da? Hier Hexen, Geister, Mord und wandelnde Wälder, dort eine phantastische Mischung aus Volksmärchen, Abenteuergeschichte und philosophischer Abhandlung über den modernen Menschen zwischen Selbstverwirklichung und Ich-Verlust. Und mehrfach gar das Stück vom dunkelhäutigen Feldherren, der aus wahnhafter Eifersucht seine Geliebte tötet und dann sich selbst. Es scheint so, als wolle die Stadttheatergemeinschaft angesichts der übermächtigen Pseudoavantgarde verzagen und habe lieber den klassischen Chor aus dem staubigen Fundus befreit. Macht einen Umweg, geht außen rum!, möchte man rufen, doch dieser Satz fällt bereits am Dortmunder Schauspielhaus, wo der dänische RegisseurJonas Corell Petersen den Ibsen-Peer über die Bühne gleiten lässt. Interessant, wieder mit dabei und live on stage: der amerikanische Tim-Burton-esque-Musikinstrumente-Erfinder Thomas Truax, der mit Beck die New Yorker Anti-Folk-Bewegung mitbegründete und in Dortmund bereits im Musiksalon Small Beast begeisterte.
Vergessen wir mal die „Othello“-Fraktion fürs Zentralabitur, vergessen wir auch den sicher „zeitgenössischen“ „Macbeth“ in Essen (schauen Sie dort lieber erst einmal Dennis Kellys „Die Opferung von Gorge Mastromas“, und dann „Macbeth“), das erste Highlight im Pott dürfte in Oberhausen stattfinden. Hier geht es um ein seltsames Buch, das seit über einem halben Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste steht. Es heißt „1913“ und ist von Florian Illies. Aus Tagebuchnotizen und Briefen von Künstlern sowie anderen Originalquellen des einzigartigen Jahres hat der Kunsthistoriker und Journalist ein faszinierendes Panorama des Gleichzeitigen kreiert. Vor genau 100 Jahren war ein Jahr, in dem die Kunst in höchster Blüte stand, in dem Dichter, Komponisten, Maler und Bildhauer immer verwegenere Formen fanden, Philosophen und Psychologen immer kühnere Expeditionen in das weite Land der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes unternahmen. Dass das Jahrhundert so blutig werden würde, ahnte da niemand. Gerade macht Marcel Duchamp das erste Ready-made, Picasso wendet sich dem Synthetischen Kubismus zu, nur der kleine Bertolt Brecht kritzelt in sein Tagebuch: „Und wenn am Abend wir sinken / u. sterben den Heldentod, / dann soll uns tröstend winken / die Fahne schwarz-weiß-rot.“ Aha. Der rumänische Regisseur Vlad Massaci bringt das Buch im Theater Oberhausen nun zur Spielzeiteröffnung erstmalig auf die Bühne – als musikalisch-literarische Revue zwischen Performance und Bildender Kunst. Die Frage nach einem neuen „Goldenen Zeitalter“ beantwortet vielleicht Schauspieldirektor Kay Voges in Dortmund. Er zeigt seinem Publikum bei der eigenen Stückentwicklung gleich 100 Wege, dem Schicksal die Show zu stehlen.
„1913“ I Fr 20.9. 19:30 Uhr (UA) I Theater Oberhausen I 0208 857 81 84
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