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Uwe Schmieder als böser Wolf, dem das dauergeile Rotkäppchen zum Verhängnis wird.
Foto: ©Birgit Hupfeld

Vom dauergeilen Rotkäppchen

27. Februar 2014

Die „Republik der Wölfe“ – ein blutiges Psycho-Märchenmassaker in Dortmund – Auftritt 03/14

Während sich der Jäger zu Schneewittchen aufmacht, um den Befehl der bösen Königin auszuführen, erklingt Psychedelisches von der Band „The Ministry of Wolves“, es wird auch als Ersatz kein Rehkitz ermordet, sondern ein Einhorn in Feinripp-Unterhose. Die „Republik der Wölfe“ im Dortmunder Theater ist kein Erholungsheim für Märchenprinzen, hier spritzt das Blut lustig aus den Kehlen. „Jugend ist Wille zur Macht“. Regisseurin Claudia Bauer lässt die wahren Unholde des deutschen Waldes auf die Zuschauer los und das sind in erster Linie die Gebrüder Grimm (Ekkehard Freye und Sebastian Kuschmann), die wohl eher ein „Erziehungsbuch für die Deutschen“ im Sinn hatten, als die Blutrünstigkeit der zahlreichen „Bösewichter“. Schon während des Einlasses beobachten große dunkle Augen die Besucher, der Wald ist eher Duschvorhang denn Natur, dahinter soll sich also das Grauen abspielen. Die Mutter von Hänsel und Gretel sieht deren Verstoß ins Unterholz auch eher als gesellschaftsbereinigende Handlung, schließlich konsumieren die Kinder nur, ohne Wertschöpfung, das kann sich eine Familie eben kaum leisten. Also müssen sie verschwinden im Rohbau auf der Drehbühne, der Wald, Hexenhaus, gute Stube und Unterwelt zugleich ist und in dem die Zuschauer per Videokamera lückenlos über die Tatvorgänge informiert sind. Das Karussell, das dreht sich immer rund herum, die Hexe kommt in den Stall – und brennt. So wollen es die Gebrüder Grimm, das Böse muss immer brennen – wenn es auch gar nicht böse ist oder eben nur in den Köpfen der ungebildeten Menschen.

Bauer schafft in knapp zwei Stunden Bilder, die nur marginal mit der Vorstellungswelt der Märchenbücher zu tun haben, sie choreografiert Grimms Sammlung und Anne Sextons Gedichtzyklus „Verwandlungen", der von den deutschen Märchen inspiriert wurde, durch eine Geisterbahn-Psychoanalyse, die hinter das vermeintlich Normale schaut. Von der sprichwörtlichen Vernunft bleibt da nichts mehr übrig, die Zwerge sind im Drogenrausch und müssen doch aufs Schneewittchen verzichten. Warum nur? Das ist die richtige Frage, die die Grimms eben falsch beantworten.

Das Einhorn in Unterwäsche bleibt die arme Wurst, die Band vom Dortmunder Musikchef Paul Wallfisch ist exzellent. Kein Wunder – sie besteht aus Alexander Hacke von den „Einstürzenden Neubauten", Mick Harvey von den „Bad Seeds" und die Multimedia-Performerin Danielle De Picciotto, die einst die Berliner Love Parade begründete und mit Hacke verheiratet ist. Gemeinsam zocken sie eine Mischung aus Neubauten-Klängen und Rhythmen, die vehement an Irmin Schmidt (Ex-Can) und dessen Masters of Confusion-Projekt mit Kumo erinnern. Aber da läuft auch schon das Rumpelstilzchen in Ego-Shooter-Optik auf der Videoleinwand. Die Königstochter hat es nicht leicht, ein Schwätzer als Vater, ein Dummbeutel als König und sie soll aus Stroh Gold spinnen, was für ein Wahnsinn. Irgendwann verfolgt sie das Rumpelstilzchen auch mit der Pumpgun – ohne Erfolg, doch das Zauberwort gibt er dummerweise preis. Ob das Leben mit dem Dumpfbacken im Schloss dagegen so erstrebenswert ist, scheint fraglich. Immer wieder schafft Bauer für diese Zweifel mächtige skurrile Szenenbilder auf Bühne und Leinwand, bei Grimms sind die Frauen immer die Leidtragenden, da ist Blut im Schuh, ich rieche Menschenfleisch, sagt der Riese. Doch erst muss noch der fette Frosch („The Frog Prince“) die Königstochter begatten, versprochen ist versprochen, dann erst dürfen sich die Schwestern für den hohlen Prinzen amputieren.Nightmare on Jigsaw?Auch von Sexton bleibt logischerweise nicht viel übrig. Keine Chance für Ruhe und Entspannung. Die Wälder sind noch immer um uns und die Sicherheit trügerisch, diese Erkenntnis transportiert Regisseurin Claudia Bauer mit einem genialen Elixier aus beiden Literaturen und der Wahnsinnsband. Und wenn Dornröschen aufwacht und nicht mehr weiß, in welcher Realität sie lebt, ob das Gebäude einen Ausgang hat, dann stellt sie die wichtigste Frage des Abends: Ist die Welt noch da?

„Republik der Wölfe“ | R: Claudia Bauer | Mi 5.3. 19.30 Uhr | Theater Dortmund | Infos: 0231 502 72 22

PETER ORTMANN

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