Ja, die Schweden haben es drauf. Musikalisch strukturieren sie die Welt, geben mit Liedern letzte Hoffnung und tiefe Einsicht. Denken wir nur an „Ich mach' mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt ...“ oder „You are the dancing queen, young and sweet, only seventeen“. Von Roxette bis Cardigans könnte man den Faden nun per Textzeilen weiterspinnen, doch vor nicht allzu langer Zeit ist ein weiteres schwedisches Pop-Momentum hinzugekommen. „What is love?“ (nein, Haddaway war kein Schwede!) fragt die Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist – sie gilt als die bekannteste Comic-Künstlerin und eine der wichtigsten feministischen Stimmen Skandinaviens – in ihrem Band übers Jahrhunderte alte Patriachat, über die Mythen zwischen Macht und Gefühl und in einem Dutzend fast schwarzhumorigen Kapiteln forscht sie auch nach dem bösen Gefühl, den Gender-Teufelskreisen nicht wirklich entrinnen zu können.
Im Theater Oberhausen machen Ronja Oppelt und Lisa Wolle (Schauspiel und Regie) diesen Selbstwertfindungs-Comic jetzt zum amüsanten Fernsehspiel im ersten Internet-Livestream der letzten Spielzeit von Intendant Florian Fiedler. Obwohl – amüsant ist das Werk der Schwedin nicht gerade, egal welcher Seite sich der Zuschauer zugehörig fühlt. Die beiden quicklebendigen Schauspielerinnen bedienen das Format telegen, szenisch geschnitten, mit Kamerafahrten, Nahaufnahmen, flinken Kostümwechseln, hastigen Dialogen, Gesangseinlagen, allerlei Zitaten aus der Weltgeschichte und Anekdoten wohl aus eigener Jugend und Familie. Puh. Was wollen die geneigten Streaming-Girls and -Boys denn mehr? Tiefgang vielleicht oder reicht bereits die „Männer-Pflege-WM", die historisch korrekt oft junge Ehefrauen berühmter Männer als billige Pflegekraft im Alter auszeichnet. Ausgerechnet Nancy Reagan gewinnt am Ende den Pokal, sie pflegte den an Alzheimer erkrankten Ronald Reagan wie ein Baby.
Sexuelles Eigentum als Ersatz-Religion
Alles klebt an Jahrhunderte alten Klischees, Beziehungsdesaster fingen wahrscheinlich schon in der Steinzeit an. Liebe, ja wo bleibt denn die Liebe, sie wird erstaunlicherweise selten zitiert, und wenn dann im „Liebe ist …“- Grußkarten-Format einer Kim Casali aus den 1970ern, einer Zeit aus der auch das Studio-Wohnzimmer-Interieur der beiden mit Eule und Fuchsmasken zu stammen scheint. Die überregionalen Ortswechsel gehören zum Konzept, wie auch die wechselnden Bühnenbilder im Theater, die immer auch mit Figur- und Kostümwechsel einhergehen und ab und an zwei schnäbelnde Schwäne in weißem Neon zeigen. Die Rollenwechsel zwischen diversen Paaren und schwafelnden Experten (und – fast jugendfrei – Freja und die vier Zwerge) haben manchmal etwas von einer kabarettistischen Nummernrevue, ab und an ist es auch eine Mischung aus leichtem Schulfernsehen, Terra X und discovery channel (nein, ich zitiere nicht „The Bad Touch“), aber alles hochprofessionell gefilmt und in die sehenswerte Bühnenperformance eingespielt.
Irgendwann während des (durfte im Theater nicht fehlen) Gretchen-Mythos im Knast (ja, Faust war ein Arschloch) gibt's sogar eine fast gruselige Geisterstunde im Keller des Theaters. Ich glaube währenddessen drei Töne aus dem Anfang eines Britney-Songs wahrgenommen zu haben, oder mein Laptop hatte einen Fehler – „hit me baby one more time“, echt jetzt? Ich wollte das erst noch als sms schicken, aber Mitmachtheater ist nicht ganz so mein Ding, also hab ich´s gelassen. Den Service hatten die beiden den ganzen Abend über angeboten, ganz persönliche Liebeserklärungen sollten da geschickt werden, dem Patriachat zum Trotz, das sexuelles Eigentum zur Ersatz-Religion gemacht hat und dessen Existenz im Stück durch die menschlichen Zeitalter bewiesen wird. Aber der Comic und damit auch das Stück verlassen die Oberfläche der Geschlechterklischees kaum, eine Kampfansage sieht anders aus. Da hilft es auch nicht auf jemanden zu warten, der mit Kreide eine weiße Linie um den Körper zieht. Niemand wird kommen. All you need is love, love ist all you need. Fertig.
Ursprung der Liebe | 27.3. (Premiere), 9.4. jeweils 19.30 Uhr (Livestream) | Theater Oberhausen
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