In einer seiner wohl bekanntesten Szenen verdichtet Stanley Kubrick einen Fortschrittssprung in einem Match-Cut: Affen schwingen einen Knochen und schleudern ihn in den Himmel. Es folg ein Schnitt. Und ein Raumschiff düst durchs Weltall. Sandra Hüller erwähnt in den Bochumer Kammerspielen zwar diese visualisierte (und längst kanonisierte) Menschwerdung des Affen durch Werkzeuge. Und die Schauspielerin schiebt gleich hinterher, wie spannend es wäre, an diesem Abend etwa die Jagd auf ein Mammut zu schildern, als Akt voller Heldenmut. Um anschließend klarzustellen: „Diese Geschichte erzähle ich nicht“
Nein, in „The Shape of Trouble to come“ gibt es keine Helden und keine Konflikte. Das FARN. Collective exerziert in dieser Ko-Produktion mit dem Schauspiel Leipzig vielmehr ein „posthumanes Ritual“, so der Untertitel, das eine Trümmerlandschaft des Kapitalismus und Patriarchats beschwört, in der die Krone der Schöpfung längst abgedankt hat. Und so ist es ein Haufen Erde, der auf die Mitte der Rampe steht. Links auf der Bühne grünen kleine Pflänzchen (Bühnenbild: Michael Graessner). Während die fünf Bühnenakteure zunächst am Rande kauern. Bis Sandra Hüller das Wort ergreift und schließlich in einem kleinen anthropologischen Exkurs das erste Werkzeug der Menschheitsgeschichte erwähnt: den Behälter.
Von Kafka bis Langelaan
So ein Behälter ist natürlich ein simples Hilfsmittel, mit dem sich allerhand Pflanzliches für den Konsum sammeln lässt; bei weitem nicht so spektakulär wie Stöcke und Schwerter (lies auch: Phallussymbole), mit denen Tiere aufgespießt werden können. Doch wie menschlich ist der homo sapiens noch, wenn Waffen zur Tötung von Tieren (und anderen Menschen) kultiviert werden? Hüller wirft diese Frage auf. Und was anfangs moralinsauer anklingt, entpuppt sich schnell als schrille Science-Fiction-Séance, die das ökologisch verheerende Artensterben hinter sich lässt.
Denn das 2016 gegründete, sechsköpfige Theaterkollektiv greift unter der Regie von Tom Schneider ein utopisches Szenario von Donna Haraway auf. Die bekannte, feministische Autorin und Wissenschaftlerin lancierte in Büchern „Camilles Geschichten“ die Thesen einer Artenverwandtschaft, ein „Chthuluzän“ nach dem Anthropozän, in dem der Homo sapiens Symbiosen eingeht, etwa mit Fischen oder Insekten.
Tierische Poetik
Diese Mensch-Tier-Verwandlungen – von Kafka bis George Langelaan eher eine Chiffre für das Unheimliche, Absurde oder eine Hybris – inszeniert Farn als befreienden Wurf, als Erlösung von der menschlichen Gewalt- und Ausbeutungsgeschichte. So trifft es sogar das Klavier, ein Instrument der Kultivierung und Sublimierung, das Michael Graessner lieber dezent schlachtet, statt darauf zu spielen. Vielleicht sei es besser, einer tierischen Poetik ohne Sprache, einer nicht-kommunikativen Ästhetik des Vegetativen zu lauschen, über die Christoph Müller später ausgiebig monologisiert, während sich alle um ein kleines Lagerfeuer versammeln. Und Sandra Hüller schlüpft kurz darauf in das Kostüm (entworfen von Kathi Maurer) der Camille, eine fiktive Hybridfigur von Haraway und schlägt stolz die Flügel: als Menschen-Schmetterling.
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