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Da hocken sie, Willy (Andreas Beck) und Linda (Carolin Wirth) und träumen von der Vergangenheit
Foto: Birgit Hupfeld

Scheitern im Leben ist nie Realität

30. Oktober 2014

Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ in Dortmund mit einem fulminanten Willy Loman – Auftritt 11/14

Der Job macht Freude, wir haben Vermögen, die Kinder sind erfolgreich, das Haus ist fast bezahlt. Was könnte also falsch sein am deutsch-amerikanischen Traum? Die Realität. Genau. Nicht ohne Grund bringt das Dortmunder Theater in der Stadt ohne Geld Arthur Millers Pulitzer-Drama „Tod eines Handlungsreisenden“ auf die Bretter, wo die Welt nichts mehr bedeutet. Für Willy Loman zumindest. Der, der dem Traum vom monetären Ruhm nachjagte, verliert sich langsam in ihm und hat nur noch eine Trumpfkarte in der Hand: seine Lebensversicherung.

In Dortmund ist Andreas Beck dieser Loman, der seit 1949 immer wieder seine Arbeit verliert, seine Frau betrügt und damit seinen Sohn Biff ins Unglück stürzt. Liesbeth Coltof, die Künstlerische Leiterin der „Toneelmakerij“ in Amsterdam, inszeniert ruhig, aber mit viel Bewegung in den Figuren, nicht nur die Choreografie auf der Bühne. Auch die für die Rückblenden notwendigen Kostümwechsel klappen bei der Premiere reibungslos. Carolin Wirth hat es dabei besonders schwer als Ehefrau Linda zwischen den Jahrzehnten hin und her zu springen, zwei Kostüme übereinander gehen ja noch, aber die Mimik zwischen frisch verliebt und treu verhärmt muss passen, und das tut sie auch.

Loman kommt anfangs auf die Bühne, stellt sein Vertreterköfferchen ab, kramt aus der schmuddeligen Anzugjacke ein Papier und schwärmt vom 100.000-Euro-Deal. Dann bricht er ab, verschwindet und spielt die Szene noch ein paar Mal, irgendwie scheint etwas faul zu sein mit diesem Geschäft. Toll ist es ja, so ein Abschluss in seinem Alter. Als seine Frau erscheint, löst sich die Euphorie in Trotz. Ja klar, das Auto hat mal wieder gestreikt, aber dennoch, die weite Reise in den Norden hat sich gelohnt. Loman ist beliebt, bekannt, geschätzt: Jawoll „4260,- Euro umgesetzt, macht 1760,- Euro Provision“. Der Vertreterjob ist eine Goldgrube. Gut, dass Linda das besser weiß. Am Ende bleibt nur noch die Wahrheit, und das heißt 320 Euronen unterm Strich, und die reichen nicht einmal für die Rechnungen. Versucht Linda, ihn aufzumuntern, reagiert Loman mit Trotz, baut sich Luftschlösser und klammert sich an den Glauben an Sohn Biffs Karriere. Den zweiten Sohn Happy, der auf Daddys Schienen reist, ignorieren die Eltern.

In Lomans Niedergang gibt Andreas Beck alles. Man nimmt ihm diese Figur bis auf die Unterhose ab, man möchte hinaufsteigen und ihn schütteln und so vor dem Unglück bewahren; eine Minute später ist er das letzte Arschloch und man gönnt ihm die Probleme. Die Geschichte dreht sich immer um den Konflikt zwischen dem 63 Jahre alten Vertreter und dessen 34-jährigem Sohn Biff. Der war in der Schule mal Fußballstar. Doch der Seitensprung seines Vaters wirft ihn aus der Bahn, er verkackt die Schule, streunt durch die Hilfsarbeiterjobs und kehrt dem Zuhause den Rücken. Das alles verstärkt Lomans labilen Zustand noch, er spricht mit Personen, die nur in seiner Vorstellung anwesend sind und in Dortmund doch auf der Bühne erscheinen. Die steht voller Waschmaschinen, im Hintergrund flimmern graue Häuserzeilen an der Wand und ein Autobahn Slowmotion-Video von der A40-Brücke kurz vor dem Westfalenstadion. Das Unglück ist um uns herum, die Lomans werden immer mehr. Loman verliert immer weiter seinen Verstand und wird von seiner Frau am Selbstmord gehindert. Um Hilfe von Nachbar Charley anzunehmen, ist er zu stolz, immerhin hat es sein Bruder Ben ja auch zu Reichtum gebracht – in Alaska. Und so bepflanzt er lieber in der Unterhose im Dunklen seinen kargen Garten. Auch vom Deal mit der Lebensversicherung rät Charley ab, doch es ist zu spät. Nur der 100.000-Euro-Deal kann seine Visionen von Erfolg noch erfüllen.

Nach fast zwei Stunden eskalieren die Konflikte endgültig. Biff knallt seinem Vater die Realität um die Ohren und verlässt heulend das Elternhaus. Loman nimmt das nicht mehr wahr. „Habt ihr gesehen, er hat vor mir geweint. Biff liebt mich“. Alle gehen betreten ab. Nach dieser Blende steht Linda allein auf der Bühne. Sie hat die letzte Rate fürs Haus bezahlt, die Familie ist schuldenfrei. Warum ihr Mann tot ist, sie scheint es nicht zu wissen.

„Tod eines Handlungsreisenden“ | R: Liesbeth Coltof | Sa 8.11. 19.30 Uhr, So 23.11. 18 Uhr | Theater Dortmund | 0231 502 72 22

PETER ORTMANN

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