Das soll also die Zukunft sein. Ein Bühnenbild wie aus einem Star Wars-Film. Ist Ijon Tichy etwa auf dem Eisplaneten Hoth gelandet, nachdem die Imperiale Flotte den Rebellenstützpunkt atomisiert hat? Oder ist das nur eine Halluzination? Zu Beginn der Inszenierung von Stanislaw Lems „Der futurologische Kongress“ im Theater Oberhausen sind jedenfalls nur verschneite Ruinen zu erkennen, ein Telefon, ein steckengebliebener Fahrstuhl – und die Eiswelt-Kostüme – es sieht so aus, als sei es tatsächlich scheißekalt. Also nix mit Luke Skywalker, hier ist Raumfahrer Ijon Tichy richtig, das ist wirklich das einst schicke Hilton-Hotel von Costricana, nachdem es von Aufständischen angegriffen und zerstört wurde – und die Zerstörungen sind wohl noch nicht beendet. Ein dystopischer Zustand, befinden wir uns doch in einer Zukunft, in der Halluzinogene den Menschen das Leben erträglich machen sollen. Doch wie soll Regisseur Thomas Schweigen das Unglaubliche plausibel machen? Das Schöne an diesem Abend ist, er versucht es erst gar nicht. Seine Geschichte von Tichy ist die permanente Suche hinter den Dingen, hinter der merkwürdigen Person am Hotel-Rezeptions-Telefon, hinter den Mitstreitern, hinter der Welt und den rissigen Mauern. Tichys geliebte Raumstation ist weit und die Regie tut alles, dass seine Verwirrung und die Suche nach Löchern in der Matrix (Bühnenbild: Stephan Weber) immer schneller weitergeht – auch der Soundtrack von Yotam Schlezinger hilft.
Und diese Matrix ist beileibe nicht perfekt, sie ist superperfekt, bis zum Schluss bleibt die Frage nach der letzten Realität, die noch zu finden sein wird: Was wäre, wenn auch die Sauerstoffmasken als Schutz vor den Drogen selbst nur Halluzinationen sind? Die Welt ist längst am Abgrund, die Menschheit ein nicht mehr aufhaltbares Geschwür – das alles verlangt nach einer brutal ordnenden Hand im Hintergrund – ein Lemscher Faktor, der bei der Oberhausener Inszenierung nur ab und an durchdringt. Hier kämpfen sich die fünf Protagonisten unerkannt durch die Jahrzehnte, anfangs mit Christian Bayer als Tichy, doch je weiter die Drogen ins Hirn vordringen, desto breiter werden die Blickwinkel, aus denen die Zukunft betrachtet wird. Alle fünf Überlebenden (zu Bayer kommen noch Ayana Goldstein, Elisabeth Hoppe, Mervan Ürkmez, und Klaus Zwick) teilen dieselben Erkenntnisse, werden zu Tichy-Gedankenklonen. Man flieht durch die Kanalisation, ein Hund schnüffelt über die Bühne. Oder ist das nur eine Halluzination?
Wenn Menschen sich für Ratten halten, können sich auch Ratten für Menschen halten. Dann der Break. Tichy erwacht aus der Kältekammer. Die fünf sind nun mutiert in kleine orangene Homunkuli, die sich erstaunlicherweise erst einmal wohlfühlen im zerstörten Hotelkomplex. Es wird geredet, geredet. „Zukunde“, die neue Sprache, mit der alle Ungereimtheiten überwunden werden sollen, wird schnell als Fake entlarvt. Neue Worte, neues Glück: für den Wissenschaftler Tichy nur ein schlechter Scherz, obwohl – mit den zeitgenössischen Ansätzen zwischen Twitter-Slang und den endlosen Smileys, Emoticons und Emojis sind wir nicht allzu weit entfernt von dieser Lemschen Sprach-Dystopie. Eine Lichtwand trennte einst vom letzten Kapitel, das Licht war keine Offenbarung, die Menschen schnaufen, das Böse gibt es per Pille. Also wieder die schicke Trockenhaube auf, reinen Sauerstoff geatmet und die Welt als Halluzinogen erkannt. Rein in den Abwassertunnel – heraus zum „Achten futurologischen Weltkongress“ in Nounas, der Hauptstadt Costricanas, hinein in den 106. Stock des Hilton-Hotels. Überraschung: Man sieht sich selbst, und alle sehen so gewöhnlich aus in Straßenkleidung und den winzigen Gasmasken, oder ist das auch nur eine Halluzination?
Thomas Schweigen hat dem Roman eine ziemlich eigenständige kluge Form gegeben, fast aus der Perspektive eines Beteiligten spürt man die Bedrohung, die von diesen Kraken ausgeht, die versuchen, die Menschheit zu kanalisieren. Die Protagonisten treiben sich dabei gegenseitig über die Bühne, klammern sich beim Klettern, helfen sich beim Flüchten. Anders als am Theater Dortmund, wo „Der futurologische Kongress“ als eine Live-Animations-Performance von sputnic eher die Phantastik der Geschichte einfängt, aber dafür viel vom literarischen Wesen Lems verliert. Dennoch sollte man beide Versionen gesehen haben. Die Theater geben jeweils die Hälfte Rabatt auf vorgelegte Eintrittskarten des jeweils anderen Theaters. Eine schöne Geste. Oder ist das auch nur eine Halluzination?
„Der futurologische Kongress“ | R: Thomas Schweigen | 4., 11., 25.3. 18 Uhr, 27.4. 19.30 Uhr | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84
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