Die Stadt Güllen mitten im Strukturwandel. Die Innenstadt ein Tummelplatz der Obdachlosen. Linkerhand ein geschlossenes Ladenlokal, das irgendwie an die „Monsters of Reality“ erinnert. Wenn jetzt noch Zombies auftauchen, hätte der Abend eine ganz krasse Wendung genommen, aber da sind nur Langhaarige, eine ICE braust – vorbei. Eine Rolltreppe ins Nichts, ein alter Flipper und viel Müll auf dem ehemaligen Marktplatz. Die Bühne im Essener Theater könnte also auch jede Ruhrgebietsinnenstadt darstellen, etwas überzeichnet zwar, aber immerhin. Hier inszeniert nun Thomas Krupa den Dürrenmatt-Klassiker „Der Besuch der alten Dame“ und eröffnet damit die Jubiläumsspielzeit zum 125-jährigen Bestehen des Grillo-Theaters. In der Aktion „Wünsch dir was!“ (ohne Dietmar Schönherr) hat das Essener Publikum den Favoriten für den Saison-Start gewählt, ich hoffe nicht, dass die Grüne Metropole 2017 damit auch eine Milliarde Euro Aufbauhilfe erhofft hat.
Auf der Bühne tut sich was, die Bürger laufen auf, häuten sich nach der Nacht aus wärmendem Zeitungspapier. Rollläden irgendwelcher Geschäfte gehen nicht hoch. „Ill“ steht da ziemlich siffig im Hintergrund an der Fassade. Also doch eine Romero-Adaption? Nein, Zombies sind das nicht. Diese Bürgerschaft ist einfach nur pleite.
Thomas Krupa holt die Geschichte in die Jetztzeit-Realität. Da kommt kein Racheengel in die Stadt. Da kommt die Rachegöttin Nemesis persönlich, um die Schmach zu tilgen. Keine alte Frau am Ende ihres Lebensfadens, sondern Jetset-Claire mit Cowboystiefel-Schick-Butler Boby und einer japanischen Robot-Kungfu-Geisha. Doch die Zuschauer wissen, hier geht es nicht um Kill Bill, sondern um Kill Alfred. Dieser Spießbürger-Bösewicht hatte in jungen Jahren die arme Claire geschwängert, die Vaterschaft jedoch bestritten, dafür Zeugen bestochen, denn er wollte den Schreibwarenladen nebst Tochter, das schien ihm lukrativer. Tja, das siffige „Ill“ über seinem Krämerladen blieb von seinem Traum, Strickjacke, Birkenstocks dazu. Ein jugendlicher Held im besten Mannesalter sieht anders aus: Sven Seeburg hat das überzeugend im Griff, seine Metamorphose muss bis zum Schluss warten.
Der ICE hält quietschend in Güllen. Claire Zachanassian steigt aus, gleitet auf den monotonen Müllberg, Ines Krug macht aus ihr die weißblonde High-Society-Dame, die sich Ill vielleicht immer gewünscht hat – aber sind wir ehrlich, auf diesem avantgardistischen Niveau hätte der alte Sack eh nie mithalten können. Ein schnell gepinseltes Plakat, ein dümmlicher Spruch, ein überforderter Bürgermeister, und doch – die Hoffnung zieht ein in Güllen. Man baut auf den Krämer, der Bürgermeister werden soll, der ja mal was hatte mit der Milliardärin (fünffach, um genau zu sein) und wenn der sich ins Zeug legt, dann, ja dann: „I believe in wonder“-Break, Tanzeinlage vom Streetart-Cop, einen Chor den niemand sehen will. Zwei Milliarden Euro gibt es dafür, die Stadt ist außer sich. Einzige Bedingung: Alfred Ill muss sterben, der Sarg steht schon bereit, das Mausoleum auf Capri gebaut. Die Stadt versinkt in Agonie.
Krupa hat die Figuren in der, ja, nennen wir es durchaus Komödie, gestrafft, neue Bedeutungen verteilt und Irritation geschafft. Größter Coup ist Silvia Weiskopf als Diener-Geisha Roby, und Butler Boby (Stefan Migge), der immerhin Oberrichter im damaligen Vaterschaftsprozess gewesen ist und nun sühnt. Beide Figuren erzeugen eine neue Atmosphäre in der Handlung, die das Ganze von oft missbrauchter Skurrilität freihält. Dazu ein Livesound von Hannes Strobl. Seine Gitarreneinstellung zitiert nicht nur den genialen Neil Young, sondern grandios auch den Soundtrack von „Dead Man“. Danke dafür. In Güllen hält nun die Matrix Einzug, alles wird schick – auf Pump versteht sich. Jeder hofft auf den anderen und auf eine strahlende Zukunft. Gerechtigkeit ist Stückwerk, einzig der Lehrer (Stefan Diekmann) pocht halbherzig auf seinen Humanismus. Out of the blue and into the black. Alfred Ill sieht ein, gibt auf, will für seine Tat büßen, aber der Preis, den er dafür verlangt, ist hoch. Die Stadt ist wieder da, wo sie vor der Ankunft Zachanassians war. In der Verkommenheit. Der Marktplatz ist sauber, die Geschäfte florieren, aber die Seelen reisen mit nach Capri ins Mausoleum. Ja lernt denn da in Güllen niemand mal etwas dazu?
„Der Besuch der alten Dame“ | R:Thomas Krupa| Sa 16.12., Do 21.12., Mi 3.1. 19.30 Uhr | Grillo-Theater Essen | 0201 812 22 00
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