Essen. Grillo-Theater. Die Bühne. Dort herrscht die totale Leere in mitteldichter Faserplatte. Zwei Kronleuchter, ein Mikro. Also alles so, wie man sich das Leben der Eliten in Russland im späten 19. Jahrhundert immer vorgestellt hat. Das berauschende Feuer wird mit fünf Glockenschlägen angekündigt. Es dringt ein in die immer gleiche Konversation der Satten, es schafft Aufregung, berauscht. Diese Dekadenz ist anfällig geworden für einen Angriff, bei Hermann Schmidt-Rahmers Inszenierung von Fjodor Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ ist es auch ein Angriff aus Langeweile. Nach dem ersten großen Hinweisschild rezitiert vom ewigen Studenten Iwan Pawlowitsch Schatow (gern auch als Autor gesehen): „Wenn ein großes Volk nicht mehr glaubt, dass es allein berufen, alle anderen Völker erlösen, verwandelt es sich augenblicklich in ethnographisches Material“, weiß der Zuschauer wohin die Reise geht, in die unmittelbare Gegenwart von Volksverhetzern, Lügenbaronen und Rechtspopulisten. Denn die Teufel, die bei Dostojewski immer in die Schweine fahren, kommen von den Schweinen selbst.
Schmidt-Rahmer schafft die Analogie ewiger Lügen, perfider Verschwörungstheorien auf junge Menschen, auf die auch das ungebildete Volk hereinfällt, und es sind immer die strunzdummen Mitläufer, die es den machthungrigen Selbstbedienern an der Gesellschaft überhaupt erst möglich machen, sich ohne viel Mühe zu bereichern. Zu Dostojewskis Zeiten war noch nicht klar, welche dieser Ausbeutungssysteme sich nach der Zarenzeit durchsetzen würde. Also hat er auf läppischen 1000 Seiten mal alle unter die Lupe genommen. So viel Zeit hat die Regie in Essen natürlich nicht gehabt. Sieben oder acht Stunden-Theater-Orgien gibt’s ja fast nur noch in Berlin, und so reduziert Schmidt-Rahmer brachial auf die pseudoambivalenten Mechanismen der politischen Auseinandersetzung und setzt dabei zwangsläufig auf seine 13 großartigen Schauspieler.
Die werden angeführt von Stefan Diekmann als Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij, einst als Knabe von seinem Vater Stepan Trofimowitsch Werchowenskij – was für Namen, kein Wunder, dass der Roman tausend Seiten hat und dass man auf der Bühne mit russischen Stücken immer Probleme hat zu folgen – verstoßen, jetzt auf perfidem Rachefeldzug. Und aus dieser Rolle macht Diekmann einen richtig teuflisch-bösen Volksverräter, dem man nach einer Viertelstunde bereits nur eine Faust in der dämlichen Fresse gönnt. Gemeinsam mit ihm kehrt, wohl in die Nähe von Sankt Petersburg, Nikolaj zurück, der gelangweilte Sohn des adligen Hauses ohne Mobiliar, zurück zu Mutter, zur ehemaligen Liebschaft und zu seinem Hauslehrer, der immer noch intellektuell schwallender Hausfreund ist. Nikolaj, eigentlich Nikolai Wsewolodowitsch Stawrogin (geht doch), Lebemann mit dunkler Vergangenheit quer durch Europa, mit möglicher Heirat einer Schwachsinnigen, mit Drogenexzessen hier und allen anderen möglichen Ausschweifungen (Alexey Ekimov, optisch so eine Art Robert Smith) hat erst mal keinen Bock auf Umsturz, allerdings findet er Gefallen an der Vorstellung, Bauern zu Terroristen zu machen.
Was dann kommt, passt in jedes Populistenschema. Die Sixtinische Madonna ist „zu nichts nütze“, Lügenpresse, vernebelte Demokratie, unser Europa liegt im Sterben, „wir wollen eine andere Sprache“. Jawoll. Nach der Pause gehen zahlreiche Zuschauer, immer auch ein Zeichen von Qualität, doch jetzt bricht die neue Zeit an und es ist eine, in der die Gewalt das Sagen hat – und die Intrige. Mabuse – Herrschaft des Verbrechens. Ideologisch kennen wir doch alles, wieso fallen so viele immer wieder auf so einen Scheiß herein? Ein Mythos der selbsternannten Herrenrasse? Morgen ist Amerika unser! Und wofür? Die Sätze „Merkel platt machen“ oder „ich liebe euch doch alle“ hätte es da zum Verstehen nicht einmal gebraucht, witzig dagegen Stephanie Schönfeld als Arina Schigaljowna, die aussieht wie Julija Wolodymyriwna Tymoschenko (bis heute nix verändert). Ruhig boshaft steuert Schmidt-Rahmer aufs Finale zu, ästhetisch reduziert, mit wenigen Kunstgriffen für Video und Sound. Die Welt ist nichts ohne Schönheit. Das Feuer wird zur Klammer, das biblische Gleichnis von den Teufeln und den Schweinen steht hier am Ende und ein Banner für die ganz großen Ideen. Die Landstraße führt ins Nichts gleich einem endlosen Faden. Ich hab die Reise genossen.
„Dämonen“ | R: Hermann Schmidt-Rahmer | 1., 10., 18.6., 14.7. 19.30 Uhr | Grillo-Theater, Essen | 0201 812 26 00
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