Eigentlich gab es den Urknall der Moderne gar nicht. Bei der Inszenierung der Uraufführung von „1913“ im Oberhausener Theater konnte nur eine Salve mittelgroßer Erschütterungen der damaligen kulturellen und gesellschaftlichen Lebensumstände bewiesen werden. Gemerkt hat das Beben kaum jemand, fand doch der Aufbruch eher in intellektuellen Zirkeln Widerhall, und irgendwie war ja auch noch Kaiserzeit. Florian Illies‘ Bestseller auf die Bühne zu bringen, ist also nicht nur 150 Minuten Geschichtsunterricht mit Anekdotengewitter, sondern auch eine Anschauungsmaterialsammlung der interessanten Verflechtungen einer Bohème, die sich schon im Aufbruch zur Moderne gern ausschließlich um sich selbst drehte.
13 Schauspielerinnen und Schauspieler teilen sich Franz Kafka, Josef Stalin, Else Lasker-Schüler, Arnold Schönberg, Oskar Kokoschka, Bert Brecht, Adolf Hitler, Rainer Maria Rilke, Gertrude Stein und viele andere, die in diesem kulturschwangeren Jahr für Furore sorgten, von der die Welt aber erst später erfuhr. Am nachhaltigsten für die Kunstgeschichte war wohl Marcel Duchamp mit seinem ersten Readymade und nicht Kokoschkas erstes Meisterwerk „Windsbraut“, mit dem er vergebens um Alma Mahler warb. Ihre Liebes- und Leidensgeschichte erlebt man in Oberhausen in epischer Breite, ebenso wie die unglückliche Liaison zwischen Kafka und Felice Bauer, während sich zwischendurch Sigmund Freud mit C.G. Jung fetzt, Arnold Schönberg mit seinem Banausen-Publikum und Thomas Mann mit Kritiker Alfred Kerr. Oberst Redl nimmt die Knarre, Gottfried Benn stochert in Leichen, und Igor Strawinski führt „Le sacre du printemps“.
Regisseur Vlad Massaci verpackte dieses Informationschaos gekonnt in eine Kostüm-Revue mit Augenzwinkern. Manuela Freigang installierte dazu ein mächtige, dreh- und besteigbare Stuhl-Plastik in der Mitte, und fast das gesamte Oberhausener Ensemble durfte zwischendurch artistische und komödiantische Fähigkeiten beweisen, selbst eine Charlie Chaplin-Nummer als junger Adolf Hitler fehlt nicht. Alle Figuren erzählen dazu ihre Geschichte, rennen hin und her, finden sich zu musikalischen Reigen zusammen. Die großartig ausgeleuchtete Kaskade aus Stühlen von Manuela Freigang bleibt eine Augenweide.
Choreografisch passt alles, inhaltlich wird der Abend von Minute zu Minute schwieriger, eine anhaltende Dramaturgie, geschweige denn finale Dramatik fehlt, und so sehnt man sich nach der Pause das eigentlich ziemlich laue Weihnachten 1913 herbei. Denn dann sollten die Erschütterungen wohl vorbei sein, wie auch die als Running Gag gebaute Suche nach der von einem Angestellten aus dem Louvre gestohlene „Mona Lisa“. Dass bereits damals die Designerdroge Ecstasy erfunden wurde und dann für Jahrzehnte in Vergessenheit geriet, macht als Schluss nicht wieder fit; vielleicht wäre der Abend mit merkwürdigen chemischen Substanzen fürs Publikum witziger und für die Bohème damals noch denkwürdiger geworden, doch Albert Hofmann braute erst ein Vierteljahrhundert später was zusammen.
Vielleicht sollte man mal übers Jahr 1938 nachdenken: Otto Hahn entdeckt die Kernspaltung, die Exposition „Internationale du Surréalisme“ findet in Paris statt, und in den USA erscheint der erste „Superman“-Comic. Florian Illies, übernehmen Sie.
„1913“ I Sa 5.10. 19.30 Uhr I Theater Oberhausen I 0208 857 81 84
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