Das Leben eines Heiligen ist definitiv kein Dauerbrenner auf deutschen Bühnen, da wird schon eher dem Atheismus gehuldigt. Aber ein Bedürfnis nach Religion, oder besser nach Spiritualität, scheint die Menschen umzutreiben, sonst gäbe es keinen Markt für Engeltarotkarten. Das entlegene Castrop-Rauxel scheint die Zeichen der Zeit zu erkennen, ohne daraus eine biedere Religionsstunde zu machen. Ein Klaus-Kinski-Spektakel ist es aber auch nicht.
Der Abend ist inspiriert von dem niemals realisierten Filmprojekt Pierre Paolo Pasolinis, der bereits mit dem kontroversen Film „ Das 1. Evangelium-Matthäus“ die Welt des tiefen Glaubens bebildert hat. Religiösität wird bei Tankred Schleinschock aufgefächert zu einem Spektrum aus Mystik, Ritual, Spieltrieb, Wahn und bedingungsloser Liebe. Bereits die erste Szene versetzt in weihevolle, um nicht zu sagen weihrauchvolle Atmosphäre: Dunkelheit, ein Choral, dazu Kerzenlicht. Eine Stimmung, die sich wie ein roter Faden durchzieht, dennoch oft gekonnt gebrochen wird. Pastor Hanns Kessler liest mit samtener Stimme die Paulusbriefe. Dieses Fest des Pathos gerät allerdings nicht schwülstig, zu einfallsreich sind da die eingebauten Querverweise, etwa die Schergen der etablierten Gläubigen als Momos Graue Männer. Ein paar Slapstickeinlagen weniger hätten es aber sein dürfen.
Gezeigt wird nicht einfach eine Biografie, sondern der Held tastet sich vor zu den Tiefen der Religion. Paulus, fesselnd gespielt von Andreas Kunz, ist ein Getriebener. Auf diesem Weg werden ihm Gefährten an die Seite gestellt: der umtriebige Titus, der Gelehrte Barnabas, seine Schwester. Diese hebt zwar die Frauenquote, die frauenfeindliche Haltung des biblisch-historischen Paulus wird aber nicht zum Thema. Dafür wird bei religiösem Eifer genauer hingesehen. Denn der spätere Heilige ist ein Besessener, ein Fanatiker, ein Fundamentalist – jeder Kompromiss undenkbar. Klug wird so eine Parallele zum Hier und Jetzt hergestellt.
Insgesamt bleiben die angepriesenen Bezüge zur Moderne Bruchstücke: durchaus erkennbar, wenn man sie sehen möchte, unsichtbar, wenn der Blick auf Anderem ruht, fast drei Stunden Spielzeit fordernd. Eine weniger wäre tatsächlich eine Erlösung gewesen.
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