Ich war Überlebender in der algerischen Stadt Oran. Nur ich und eine Handvoll Fremde haben es geschafft. Warum? Keine Ahnung. Wir durften einfach sitzen bleiben in Ulrich Grebs Inszenierung von Albert Camus „Pest“. Anfangs saßen wir noch in zwei Reihen Rücken an Rücken in einem Quarantänezelt. Um uns herum wuselten große Ratten in Pfleger-Outfits, die scheinbar den Anweisungen einer großen Puppe im Hintergrund folgten, oder einfach nur alles ins Chaos stürzten und ab und an Zuschauer aus dem durchsichtigen Kunststoff-Zelt führten – ins Massengrab der Pest.
Mit diesen Durchbrechungen der großen Erzählung kann der Regisseur nicht nur die Textmenge des Romans strukturieren, sondern auch die große Gefahr geschickt umgehen, im Schlosstheater ein szenisch untermaltes Hörspiel zu inszenieren, dessen Text eigentlich eine Reflektion auf den 2.Weltkrieg ist und die Absurdität „Mensch gegen Mensch“ im Ausnahmezustand thematisiert. Grebs erzählendes Rattenensemble sind die Schauspieler Lena Entezami, Elisa Reining, Frank Wickermann, Patrick Dollas, Matthias Heße und Roman Mucha, die selektieren, probieren, Arzneien an den Zuschauern testen und ab und an über Tisch und Bänke gehen. Camus‘ Hauptprotagonist Rieux ist die Puppe (Joost van den Branden), die irgendwann den Schrein im Hintergrund verlässt und sich in die Hände des Publikums begibt. Den filigran gestrickten Soundteppich mit Ausbrüchen besorgt dazu Emilio Gordoa, Improviser in Residence. Die Reihen lichten sich, auch unter den Helfern. Wenn die Spieluhr Ode an die Freude spielt, ist die Pandemie vorbei, das Labor wird abgeräumt, wir die Überlebenden rausgeschmissen, der Rest darf sitzen bleiben, ist ja auch tot.
„Die Pest“ | R:Ulrich Greb | 23.11., 6., 7.12. je 19.30 Uhr, 24.11. 18 Uhr | Schlosstheater Moers | 02841 883 41 10
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