Irgendwo im westlichen Ruhrgebiet gibt es eine vier mal vier Meter Markierung im öffentlichen Raum: Das Kunstwerk „The Square“ zieht die Besucher damit in einen inneren Raum, wo alle vorstellbaren Unterschiede getilgt werden. Noch besser, jedem, dem es dort nicht gut geht, wird in diesem Quadrat geholfen werden. Eine geheimnisvolle realitätsferne Zone, die der dystopischen eines Andrei Tarkowskis gleicht? „The Square“ ist eher ein soziales Experiment, das die allgemeine Achtsamkeit fördern will. So die schöne Idee – und die Arbeit gibt es in Värnamo (Schweden) wohl immer noch. Auf der Bühne transformiert sich das zu einer Versuchsanordnung – doch kann dieses theatralische Laboratorium auch für das Draußen, die Realität außerhalb gelten, wo soziale Ungleichheit längst der Maßstab aller religiösen und weltlichen Dinge geworden ist?
Um es gleich vorweg zu sagen: Es gibt keine soziale Kunst. Kunst agiert immer nur nach eigenen Regeln, das Kunstwerk an sich ist niemals an Personen, Institutionen oder Ideologien gebunden, es ist autonom und ruht in sich selbst. Im Moerser Wallzentrum, einem ehemaligen Einkaufstempel am Rande der Innenstadt, der seit Jahren vom kleinen Stadt-Theater als illustre Spielstätte genutzt wird, scheint es so zu sein, dass mit dem Stück „Die Brutalität der Schönheit (AT)“ nach Motiven des Films von Ruben Östlund, der vor fünf Jahren dafür in Cannes die Goldene Palme erhielt, das Gegenteil generiert werden soll.
Paulina Neukampf, die zum ersten Mal am Schlosstheater arbeitet, will mit der Inszenierung eine selbstironische Betrachtung des Konzepts der „sozialen Kunst“ schaffen und von zwischen eigener Verantwortung und Macht-Ohmacht-Gefügen belasteten Figuren erzählen. Die leeren Ladenlokale im Wallzentrum, insbesondere die Fashion Boutique, werden dafür zu einer Ausstellung, die sich mit immersiven Mitteln der subtilen Brutalität der menschlichen Gesellschaft nähert.
Das heißt, wenn ich mal frei vermuten darf, dass das (AT) hinter dem Titel für Advanced Technology (fortgeschrittene Technologie) steht, denn die theatralische immersive Exhibition dürfte mit Hilfe der virtuellen Realität erzeugt werden. So sehr „The Square“ als soziales Kunstwerk auch agieren will, im Film wird irgendwann auf einem YouTube-Kanal ein Clip gezeigt, in dem ein weißblondes Kleinkind in ärmlicher Kleidung mit einem Kätzchen auf dem Arm das weiße Quadrat betritt und dann durch eine Explosion getötet wird.
Die Brutalität der Schönheit (AT) | Do 12.05. 19.30 Uhr (P) | Wallzentrum Moers | www.schlosstheater-moers.de
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